Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Zwölf

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Das Nichtvorhandene und was durchaus sein könnte

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Der Bär saß am letzten, dem Abreisetag, noch mal im Engelthaler Forst. In Blumen. Er mußte an den großartigen Bären, der nicht da war denken, jener aus dem gleichnamigen Bilderbuch von Oren Lavie, als er den Reflex unterdrückte, die Schneeglöckchen, die ihn umgaben, zu zählen. „Es ist besser, Blumen zu riechen, als sie zu zählen. Blumen sind schöner, als sie 38 sind.“ Dieser Gedanke machte ihn froh in der Morgensonne und er sortierte ihn in seinen Gedankenschrank ein und fügte für sich hinzu: „Heute bin ich ein glücklicher Bär. Danke schön aber auch.“

Der vorletzte Tag war schnell vergangen. Archibald Mahler hatte einen Brief geschrieben. Der Ehrenwerte Ernst Albert hatte Laudes, Eucharistie, None, Vesper und Komplet besucht, beobachtend, fremd, sich jedoch nicht fremd fühlend, sondern willkommen, aber nicht bedrängt. Manche Worte hat er mitgemurmelt, manches war ihm seltsam, erschreckte ihn, mal weil es fürchterlich fern, mal weil es erstaunlich nah. Und sonst schwieg er mit Freude. Ein Psalmwort blieb ihm den ganzen Tag über im Kopf und er dachte es laut vor sich hin, als er den Brief seines Bären zum Briefkasten draußen vor dem Klostertor trug. Man möge, lauteten die Worte, nie vergessen, daß des Menschen Tage wie Gras seien, und daß man, wenn der Wind über das Gras gegangen, nicht mehr wisse, wo man einst gestanden, wo die Stätte des eigenen Wirkens gewesen war. Und ihm kam der letzte Sommer in HOYWOY in den Sinn, als er auf der Terasse der dortigen Pension Mark vom Gras sang, welches immer wieder wächst, wild und hoch und grün, bis die Sensen ohne Haß ihre Kreise zieh’n, dieses tröstende Hoffnungslied des Gundermann, den mit jungen dreiundvierzig Jahren der mortem suspectam ereilt hatte. Dies die Botschaft der Psalmworte:  man möge nie vergessen, vorausschauend und gläubig, sich über den eigenen hysterischen Tellerrand erhebend, daß des Sensenmannes vornehmste Eigenschaft ist, unerwartet zu ernten. Wie sagt man in der Gegend, in welcher er aufgewachsen war?

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„Mr hodz it leicht, aber leicht hodz ein!“

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Ein kalter Wind hatte in der Nacht den Himmel gehoben, die niedrig dahinziehenden, nassen Wolken verjagt, die Sterne heller denn je funkeln lassen. Der Ernst Albert saß auf der Bank am Waldesrand, Archibald Mahler in den Schneeglöckchen. Man blickte hinab ins Tal. Überflutete Auen, ein Nahverkehrszug Richtung Heimat rauschte vorbei, vereinzelt Autos auf der Bundesstrasse da unten im Tal. Ein Hauch von Angst hatte die zwei Gelegenheitspilger ergriffen, mußte man nun doch diese stille, freundliche Insel verlassen und wieder hinaus ins Meer der Hektik, des Gelärmes und der Geschafftelhuberei. Was aber würde man mitnehmen von der Insel, was würde Bestand haben?

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„Herr Ernst Albert? Wir müssen gleich, gell!“

„Scheint so! Ein, zwei Minütchen noch!“

„Und was nehmen wir mit von hier?“

„Ein Glas Erdbeermarmelade mit grünen Pfeffer und eine Seife, die nach Zitronengras riecht. Beides aus dem Klosterladen und beides für die Wunderbare Pelagia!“ (Ja, ja lieber Säzzer! Wird auch bald erklärt!)

„Und sonst noch?“

„Tja, das werden wir sehen, was wir in den Alltag rüber zu tragen vermögen. Was da weiter atmen mag!“

„In ein paar Tagen baut man nicht den ganzen Tempel, geschweige denn inklusive Bärleuchtung!“

„So ist es! Nicht zu schnell nach dem Erhabenen greifen! Das Gewöhnliche suchen, nicht die Sensation! Wer das Gefühl hat, endlich wieder etwas freier atmen zu können, soll nicht so tun, als habe er eben das Atmen erfunden!“

„Gestern haben Sie mir eine schöne Gute Nacht – Geschichte vorgelesen von diesem portugiesischen Buchhalter!“

„Der gute alte Fernando Pessoa! Das Buch der Unruhe!

„Ich wurde aber ganz ruhig und mußte, um einzuschlafen, keine Blumen mehr zählen. Vor allem der letzte Satz.“

„Ich schlafe, wenn ich vom Nichtvorhandenen träumte; ich erwache, wenn ich von dem träume, was durchaus sein könnte.“

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Dann schulterte der Ehrenwerte die Tasche inklusive Archibald Mahler. Man ging, wie so oft die letzten, guten Tage am Gekreuzigten vorbei. Man hielt inne, beugte das Haupt, nicht so tief und lange, wie die Schwestern in Engelthal dies tagtäglich, Jahr um Jahr tun, aber immerhin. Man kann sich auch mit kurzem Arm bekreuzigen.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Montag, 6. April 2020 10:31
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