Und dann wollte auch die Liebe keine Paraden und Parteitage mehr (Walden Twelve)

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Da saß er also vor dem laufenden Fernseher in einem Pausenraum des ‚VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg’, kurz: SONNI. Das Testbild fiepte von der Mattscheibe. Tankred Florschütz war eingenickt. Auf dem grünbräunlichen Linoleum-Fußboden lag ein kleiner Bär. Er war dem Schläfer aus den Händen geglitten. Es roch intensiv nach Wofasept, dem allgegenwärtigen Putzmittel. Der Bär mußte niesen. Das erste Mal in seinem Leben. Herr Florschütz bemerkte dies nicht und schnarchte weiter. Das Bellen eines Schäferhundes weckte ihn. Der Wachdienst drehte seine Runde und machte die Lichter aus. Tankred Florschütz sprang auf, griff nach dem Teddy. Im Türrahmen stand der Wachmann. Na wunderbar! Nachts unerlaubterweise in die Produktionsräume des ‚VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg’, kurz: SONNI, eingedrungen und sich auch noch am Volkseigentum vergriffen. „Ei gugge da, da is ja noch eener. Dachte schon, alle ham heut Nacht ribergemacht. Na, och n kleines Andenken an unseren alten Saustall organisiert? Der iss aber Nscheener! Jetzt aber schnell hehme, Genosse! Dann will ich nüscht gesehn homm!“ Der Schäferhund knurrte und zeigte Zahn. „Na biste ruhisch, Walter!“ Der kleine Bär in der Hand des schlaftrunkenen jungen Mannes wußte von diesem Moment an, daß diese vierbeinigen Kläffer ihm wohl nie besonders symphatisch werden würden.

Hatte es gestern noch fast den ganzen Tag genieselt, so zeigte sich heute die Sonne und es war für die Jahreszeit außerordentlich mild. Tankred Florschütz stand vor der Pforte des ‚VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg’, kurz: SONNI, und wartete. Er war kurz bei sich zu Hause gewesen, hatte  sein neues Fahrrad Marke Diamant bestiegen und war in die Rosa-Luxemburgstrasse 5 in Sonneberg-Bettelhecken gefahren, hatte dort sturmgeläutet, doch keiner hatte geöffnet. Eine Nachbarin hatte ihre Haustüre geöffnet und Herrn Tankred Florschütz mitgeteilt, daß Fräulein Jacqueline Kraushaar–Dorst heute Nacht nicht nach Hause gekommen sei. Man wäre selber erst morgens um vier ins Bett und bis dahin sei die Dame nicht zurückgekehrt und die Vorhänge wären immer noch zugezogen. Keine Veränderung. Zumindest hier. Also wartete er vor der Pforte auf das Eintreffen der Spätschicht, in seiner Hand ein Einkaufsbeutel aus  dem guten Stoffe Dederon, in diesem Beutel ein kleiner Bär, der etwas verwirrt. Verschlafene, übermüdete, noch trunkene Werktätige schlurften durch das Werkstor. Erstmal in die Kantine, ein Kaffee, vielleicht ein Schnäpschen. Wer war denn schon alles drüben gewesen? Einige nickten Tankred Florschütz zu. Da stand er ja wieder, der langhaarige Kater. Mensch, muß Liebe schön sein! Dann war die Straße vor der kleinen Spielwarenfabrik leer. Der Pförtner, zu dem er sich umgedreht hatte, zog die Schultern hoch und neigte den Kopf bedauernd nach rechts. Nein, die geliebte Schakkeline ist heute nicht zur Arbeit erschienen.

Seit zwei Wochen hatte der Bär nun einen Ehrenplatz in des Tankred Florschütz Einraumwohnung mit Kochnische im sechsten Stock eines Plattenbaus in Sonneberg-Wolkenrasen mit Blick auf die wenige hundert Meter entfernte innerdeutsche Grenze, die seit vierzehn Tagen nun keine semipermeable Membran mehr war, sondern nach beiden Seiten offen. Der Bär saß oben auf dem kleinen Schränkchen, in dem sich der sorgsam gehütete Schatz des Tankred Florschütz befand. Sieben Westschallplatten!

The Rolling Stones: Beggars Banquet / Emerson, Lake & Palmer: Pictures At An Exhibition / Neil Young: Time Fades Away / Deep Purple: Machine Head / The Clash: London Calling / Udo Lindenberg: Ball Pompös / Bob Dylan: Blood on the Tracks (heilig, heilig!)

Ein Schatz, der innert weniger Tage einen rasanten Wertverlust erlitten hatte. Doch der Bär hatte  seit einigen Tagen einen Namen. „Mensch Erich Schlackerbein, da sitzen mir zwee Beede und warten auf de Tschäki. Geteiltes Leid, mein Scheener. Du hast ja och mitgekriecht, was für zärtliche Hände die Tschäki. Ne? Och, Scheiße!“ Und dann weinte der verlassene Mann oder trank Schnaps oder beides zugleich. Und hörte traurige Lieder. Love in Mind.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Montag, 26. Juli 2010 17:48
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