Wer zu spät kommt! Wenn es so einfach gewesen wäre einst im November! (Walden Eleven)

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Tankred Florschütz war jemand, der meist zu spät kam. Nicht daß wir uns falsch verstehen, er war kein unpünktlicher Mensch, ganz im Gegenteil. Auf Tankred Florschütz war Verlaß, aber eilig hatte er es nie. Wenn Gleichaltrige schon zum zweiten Mal heirateten, um sich den Anspruch auf eine Zweiraumwohnung zu sichern, wuchs auf Tankreds Oberlippe der erste Flaum. Wenn seine Freunde das erste Kind mit dem neuen Trabi von der Polytechnischen Oberschule abholten, dachte Tankred über den Erwerb seines ersten Fahrrads nach. Auf seinem Nachttischlein lag Alfons Zitterbacke neben Tschingis Aitmatows ‘Dshamilja’ und Franz Fühmanns “22 Tage”.  Im Prinzip war er auch an jenem Abend pünktlich. Wie immer. Er stand vor der Pforte des ‚VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg’, kurz: SONNI. Niemand da, doch alle Lichter brannten. Er betrat das menschenleere Fabrikgelände. Aus einem der Pausenräume drang lautes Rufen und Johlen. Ein Fernseher lief dort alleine vor sich hin. Sah Tankred Florschütz die Ausstrahlung eines Science–Fiction-Filmes? Welchem abgedrehten Regisseur war das denn eingefallen? Menschen tanzten auf dem ‚Antifaschistischen Schutzwall!’ herum, sangen, lachten, lagen sich in den Armen und schlugen mit Hämmern und Äxten auf das Mauerwerk ein. Die Ordnung schaute tatenlos zu. Spinner! Er betrat die Fertigungsabteilung.

Auf dem finalen Produktionstisch der „Nähstube Endfertigung“ lag ein kleiner namenloser Bär, der gerade im Begriff war zu erfassen, daß es ihn überhaupt gibt. Flackerndes Neonlicht Marke Narva erhellte den Raum. Die frisch eingesetzten Glasaugen schmerzten. Wer, wo, was und wie bin ich? Die üblichen Fragen beim Hineingleiten in eine neue Existenz. Die Welt gehörte ihm, denn war da sonst wer? Nein! Nein? Doch! Ein freundlich grinsender Langhaariger beugte sich über ihn. Nietenjacke, Nietenhose, bügelfreies Campinghemd, Chapka auf dem Kopf. „Mensch guck aber och, Du bist vielleicht Nscheener! Sachemol, Du weeßst och nich, wo meine Tschäki iss?“ Tankred Florschütz wollte eigentlich, wie jeden Abend seit nun etwa drei Monaten, seine geliebte Schakkeline von der Schicht abholen. Sie, schon dreimal geschieden, doch er – Wir wissen, es dauert alles etwas länger bei ihm! – zum ersten Mal in seinem Leben in Flammen stehend. Ein jähes und bitteres Gefühl von plötzlich eintretender Einsamkeit jagte Tankred die Wirbelsäule entlang. Seltsam! Er hob den kleinen Bären vom Tisch. „Mensch Kerle, das doarf doch nich woahr sein! Dein eenes Bein schlackert!“ Ambulance Blues.

In Coburg tanzte der Bär und lange getrennte Brüder und Schwestern miteinander und die Nacht war ein Tag. Die Veste blickte hinunter auf eine nicht endenwollende Schlange stinkender und hupender Trabis und in den Kneipen flossen Bier und Schnaps ohn Unterlaß. Jacqueline Kraushaar–Dorst war heiser, lachte, weinte, schrie, schwieg, trank. „Tschäkki! Komm, mir müssen hemme!“ „Die nächste Runde geht auf mich. Schöne Schwester aus dem Osten, bist Du schon mal in einem Jaguar gefahren?“ „Tschäki, des kannste nich mochen. Komm, mach hinne!“  Die Rücklichter eines Jaguar XJS Cabrio verschwanden in einer nebligen, kalten, doch äußerst historischen Novembernacht. In besonderen Momenten kann man auch bei solchen Wetter das Verdeck herunterlassen. Eine trunkene Frau küßt einen Mann aus dem Westen. Ihre Haare fliegen durch die Nacht. Schnitt. Wald in Mittelhessen. Was man so alles erlebt hat, wovon noch gar nichts wußte. Archibald kratzte sich am Bärenpöter. „Mehr, liebe Erinnerung, mehr.“ Morgen ist auch noch ein Tag, lautete die Antwort.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Sonntag, 25. Juli 2010 17:10
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