Mittwoch, 28. April 2010 0:28
Man hatte dazu gelernt. Keine größeren Ausflüge ohne Proviant. In seinem Rücken eine alte Kirche, auf dessen Turm ein Storchennest thronte, welches genutzt und bebrütet wurde, blickte Archibald hinunter in eine fruchtbare Ebene. In dunstiger Ferne grüßten die Stadt und ihr Kirchturm. Leider auch einiges an Beton und Scheußlichkeit. Ernst Albert dachte derweil an Eva Pelagia, mit der er hier vor Jahresfrist ihren Geburtstag gefeiert hatte und vermißte sie. Er sprach das nicht aus, aber Bären sind feinsinnige Geschöpfe und merken so etwas. So ließ Archibald einen solidarischen Seufzer in die schwül-warme Luft aufsteigen. Dann widmete er sich wieder seiner Begeisterung für dieses unfaßbar fruchtbare Stück Land. Alles schien den Aufrechtgehern hier in den Schoß zu fallen beziehungsweise zu wachsen. Vor Urzeiten und gänzlich von Flugplänen unbehelligt, hatten Vulkane hier rumgespuckt und späteren Generationen einen sensationellen Lößboden hinterlassen. Nirgendwo sonst im Land gedeiht eine solche Vielfalt an Gewächs und Getier. Zwischen den Orchideen wohnen die Eidechsen. Und die Sonne stellt dazu alljährlich landesweite Rekorde auf. Und weil die Bewohner der alten Stadt gescheit und geschäftstüchtig sind, haben sie vor über dreißig Jahren die kleinen Bauern- und Winzerorte einfach eingemeindet. Man gönnt sich ja sonst nichts. Aber das wußte Archibald nicht und es interessierte ihn auch nicht. Er ließ dieses Stück Erde in sich hineinfließen. „Du schaust genau so versonnen auf dieses Land wie Eva Pelagia im letzten Jahr, mein Freund.“
Bären haben, besonders dann wenn es wärmer wird, einen gewissen Hang zur generellen Entschleunigung. Sie nennen so etwas dann ‚Welt schauen’ oder ‚Floralmeditation’. Und das hier war ein perfekter Ort, um nur zu schauen, wie wächst, was die Aufrechtgeher tröstet und berauscht. Betrachtender Winzer, das wäre doch ein Beruf für einen Faulbären. Gern wird der Traum geträumt bevor er platzt und Ernst Albert hatte schon immer den Hang zum Spielverderber. Elender Realist! Sie standen vor einer Tafel. Ernst Albert liest vor: „Ein Jahr im Weinberg. Statistisch gesehen muß jeder Rebstock vom Winzer innerhalb eines Jahres ca. 17-mal besucht werden. Das Weinjahr beginnt im Januar und Februar mit dem Rebschnitt. Altes Holz wird entfernt und die Zahl der “Fruchtruten” wird bestimmt. Der Rebschnitt ist nach wie vor noch echte Handarbeit, für die die Winzer oft viele Wochen benötigen. Im März und April, wenn die Reben anfangen zu “bluten” – so nennt man den Saftaustritt an den Schnittwunden, werden die Fruchtruten nach unten gebogen und gebunden. Bei diesen Bindearbeiten stehen die Winzer oft im wahrsten Sinne des Wortes “im Regen” – und das auch noch gerne, denn die feuchte Witterung verhindert, daß die Ruten beim Biegen brechen. Ab April wird der Boden mit verschiedenen Arbeitsgeräten wie Grubber, Fräse und Kreiselegge, mechanisch aufgelockert. Dies dient dazu, das natürliche Bodenleben anzuregen. Anschließend werden Begrünungspflanzen eingesät. Damit die Reben ausreichend mit Nährstoffen versogt werden, wird nun auch gedüngt. Ende April/Anfang Mai kommt es zum Austrieb. Nun beginnt die Phase des Pflanzenschutzes gegen Pilzkrankheiten, wie den echten und falschen Mehltau. Je nach Witterung müssen die Rebschutzspritzungen im Laufe des Sommers insgesamt 4 bis 7 mal durchgeführt werden. Während der Blüte, Ende Juni, sollten die Reben möglichst ihre Ruhe haben. Die Zeit der Selbstbefruchtung beim Wein sollte von kurzer Dauer sein, um eine Verrieselung oder das Verblühen ohne Befruchtung, zu vermeiden. Läuft die Befruchtung schlecht, kann die Erntemenge stark eingeschränkt sein. Um ein Abbrechen der Reben zu verhindern, werden die am Bogen wachsenden Reben in dieser Zeit “aufgebunden oder eingekürzt”. Während der ganzen Wachstumsperiode zwischen Juni und August sind die Weingärtner mit Laubarbeiten beschäftigt. Zum Teil werden die Triebe festgebunden, um sie vor Windbruch zu schützen. Auch müssen nun durch den Laubschnitt Blätter entfernt werden, um die Durchlüftung der Rebanlage zu fördern. Wenn Mitte bis Ende August die Reifephase eintritt, beginnen die Weingärtner mit der sogenannten “grünen Lese”. Durch das Entfernen einiger schon erbsengroßen Beeren, erhalten die verbleibenden Beeren mehr Kraft. Die entlasteten Rebstöcke erreichen dadurch einen bessern Qualitätsbereich. Im September ist es dann endlich soweit: Die Früchte der Arbeit können geerntet – besser gelesen – werden. Die Lese kann sich bis zu drei Wochen hinziehen. Vor allem, wenn sie von Hand erfolgt. Zwar werden die Trauben immer häufig mit dem Vollernter gelesen, aber nur in Handarbeit kann der Winzer faule oder unreife Trauben konsequent auslesen. Nach dieser Strapaze haben sich Winzer und Weinberg eine Pause verdient. Doch der Winzer muß noch mal “ran”. Der Weinbergsboden, der durch die Lesearbeiten stark zertreten ist wird ein letztes Mal umgepflügt. Dann deckt auch meist schon bald der Schnee den Weinberg zu.“ Potzrembel! Von wegen in den Schoß wachsen! In Vino labora verita est!
Hier saß nun Archibald Mahler, Winzer in spe. Die schwarze Folie unter seinem Hintern fühlte sich etwas seltsam an. Aber er spürte, wie etwas sehr Kostbares unter ihm heranwuchs. Weiße Stangen, die diese Böden und die Wärme ganz besonders mögen. Weiße Stangen, die es nur wenige Wochen im Jahr gibt und auf die die Zweibeiner im Lenze ganz wild sind. Weiße Stangen, denen man wahre Wunderdinge nachsagt. Das Wort hat der Herr Fremdenführer: „Spargel gilt auch als Heilpflanze. Im Vordergrund steht die blutreinigende und harntreibende Wirkung. Außerdem wird dem Spargel eine Hilfe bei folgenden Leiden zugeschrieben: Gallensteine, Nierensteine, Herzklopfen, Husten mit Auswurf, Rheuma, Gicht, Milz- und Leberleiden, Gelbsucht, Hämorrhoiden, Ruhr, Magenschwäche, Milchschorf, Lungenleiden und generelle Unpäßlichkeiten. Er gilt als aphrodisierend, potenzsteigernd, empfängnisverhütend und soll die Monatsblutung fördern. Hörst Du zu, Archibald? Archibald?“ Weg, der Bär war verschwunden. Einfach verschwunden. In Duft aufgelöst. Zwischen den Blüten und Blumen brummte, summte und kicherte es.