Die Toten in der Stadt oder Die Geburt des Geschichtenerzählers Ernst Albert
Der Alte Friedhof. Ein verwunschener Ort. Im Schatten altehrwürdiger Bäume, zwischen ungemäht wuchernden Wiesen und Sträuchern: Grabmäler, Skulpturen, Kreuze. Hundert, zwei-, dreihundert Jahre alt und mehr. Inschriften, manche sorgfältig restauriert, manche zerfressen und nicht zu entziffern, dem Verfall preisgegeben. Geschichten überall. Es raunt und es wispert. Die Toten erzählen die schönsten Geschichten. Man muß ihnen nur zuhören. Archibald tut das.
Es kommt alles ans Licht. Früher. Meist später. Oft auch zu spät. Aber es kommt ans Licht. Der Totenkopf erzählt: Es lebten einst ein alter Schmiedemeister und seine junge Frau. Glücklich war die Ehe nicht, der Mann war alt und müde vom Leben, die Frau war jung und voller Verlangen und Ungeduld. So begann sie ein Techtelmechtel mit dem Gesellen. Da beider Blut mehr und mehr in Wallung geriet, beschlossen sie den alten Meister aus dem Weg zu räumen. Mit Hilfe des Geliebten rammte die junge Frau dem schlafenden Gatten einen Nagel in den Schädel. Das noch kräftig wuchernde Haupthaar des Schmieds verdeckte die Wunde, niemand schöpfte Verdacht, selbst als die Frau und der Geselle bald darauf heirateten. Jahre später mußte das Grab geöffnet und geräumt worden. Die Cholera zog durch die Lande und man brauchte Platz. Der Spaten des Totengräbers gab Laut. Metall schlug gegen Metall. Der Nagel im exhumierten Schädel war deutlich zu sehen. Der Frevel war ans Licht gekommen. Die Schuldigen wurden zu Tode verurteilt.
Rechtzeitig kehrt machen kann Heil bringen. Manchen gelingt es. Die meisten schaffen es nicht. Die schlafende Jungfer erzählt: Ein junger Mann und eine junge Frau fanden aneinander Gefallen. Der junge Mann war nur zu Besuch in der alten Stadt gewesen, aber Amors Pfeil saß tief ihm im Gewebe und bald holte er seinen Koffer und stellte diesen in der Kammer der jungen Frau ab. Die junge Frau aber war krank. Sie brauchte berauschende Blätter, viele, starke, täglich. Der junge Mann wollte sie davon befreien und verbrannte die berauschenden Blätter. Die Frau war dankbar und gesundete. Der junge Mann aber reiste gerne. Er hatte seinen zwei besten Freunden versprochen den Sommer mit ihnen in einem fernen Wüstenland zu verbringen. Er reiste ab. Die Frau erkrankte wieder, schrieb Briefe an vereinbarte Orte, bat um schnelle Rückkehr. Die Briefe blieben liegen in den Postämtern entlang der Reiseroute des jungen Mannes. Avignon. Malaga. Algeciras. Tanger. Marrakesch. Im fernen Wüstenland erkrankte der junge Mann schwer im Gedärm. Jetzt vermißte er die junge Frau. Abgemagert und schwach schleppte er sich tausende von Kilometern zurück. Zu spät. Tot war die Liebe. Die junge Frau setzte ihn und seinen Koffer vor die Tür. Wohin nun? Der junge Mann betrat den Alten Friedhof. Hier wollte er weinen. Man sah ihn von nun an öfters. Hin und wieder legte er frische Blumen auf das Grab eines jung gestorbenen Adelsfräulein. Er verweilte dort ein wenig und las die Briefe der jungen Frau, die aus den fernen Postämtern zurückgekommen waren. Nach einem Jahr. Dann wandelte er zwischen den Gräbern und rezitierte. Hehre Worte.
Vieles ist zu ersetzen. Manches wird nicht einmal vermißt. Ersatz ist ein böses Wort. Weil es weh tut. Aber die Geschichten davon sind schön. Auch und gerade, wenn sie schmerzen. Ernst Albert, der vor wenigen Minuten noch den eloquenten Fremdenführer gegeben hatte, war mit Betreten des Alten Friedhofs recht wortkarg geworden. Archibald hatte nichts dagegen. Es gab viel zu sehen. Er entdeckte ein kopfloses Grabmal. Ein Fragment. Er bestieg es. Er spielte rum. Er schlüpfte in die Rolle eines Toten. Ernst Albert lachte. Er rezitierte. „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten? Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? Ihr drängt euch zu! Nun gut, so mögt ihr walten, wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt; mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.“ Archibald verstand nicht ganz. Woher sollte er auch wissen, daß Ernst Albert hier an diesem Ort, kopflos und herzschwer – sein Koffer stand vor einer geliebten Tür , er war zu spät gekommen und auch ansonsten recht dumm gewesen – den Beschluß gefaßt hatte, all seine Studien abzubrechen und zum Musentempel zu gehen, um Geschichten zu erzählen, Löcher der Erinnerung zu stopfen, Fragmenten Leben einzuhauchen und hehre Worte des Herrn Geheimrat JWvG zu sprechen. „Ich hab Hunger. Komm, Bär! Aufbruch! Genug sentimentalisiert!“