Über der und über die Stadt
Die ersten Meter waren mühsam. Die sogenannte Trödeldemonstration. Ernst Albert schmunzelte. Er dachte an seine Kindheit, wenn sein Vater zu den sonntäglichen Spaziergängen gerufen hatte. Lustlos und von der Befürchtung besessen, der Ausflug zöge sich so lang hin, daß man nicht rechtzeitig zum Erklingen der Titelmelodie von Bonanza nach Hause zurückkehrte, schlurfte man hinter den Erziehungsberechtigten her. “Sehet her, all ihr Passanten! Hier wird Adam Cartwright gezwungen ohne Pferd auszureiten! Skandal!” Doch das legte sich meist schnell. Der Anblick der Natur oder ein Witz des Vaters gewannen bald die Oberhand in Sachen Laune. So auch bei Archibald.
Die ersten Meter war es steil bergauf gegangen. Hinter der Neuen Höhle erstreckten sich die letzten Ausläufer des schwarzen Waldes. Sie führten die Wanderer direkt an den Rand der Stadt. An den Südhängen dieses letzten Berges hatten die Aufrechtgeher einst mächtige Festungsanlagen gebaut, wovon noch Reste erkennbar waren, alte Mauern, alte Türme, Aussichtspunkte. Von dort, wo die Aufrechtgeher einst geduldig nach den ersehnten Feind spähten, sahen die Wanderer heute, wie wohl bei kaum einer anderen Stadt, wie Natur und Siedlung sich ineinander verwoben. Wald, Weinberge, Strassen, Häuser – fließende Übergänge allerorten. Hinter der Stadt eine im Morgennebel zu ahnende Ebene, zu riechen ein Fluß und dahinter neue Berge, lichter, wärmer als der schwarze Wald in ihrem Rücken. Archibald erkletterte einen Zaun. Und wenn Archibald hinabschauen kann, ist er wieder obenauf. Revolte und Befreiungsaktionen waren erstmal verschoben.
Sie bogen um die Ecke. Archibald schluckte. Der Anblick überraschte ihn. Der gefiel ihm aber, dieser Turm. Dieser fast durchsichtige, so gar nicht abweisende, filigrane Turm, der die größte Kirche der Stadt zierte. Nun gut, Schönheitsfehler inklusive, denn die Spitze des Turmes war in ein riesiges häßliches Gerüst gehüllt und der reine, gerüstfreie Anblick bestand – um präzise zu bleiben – zu großen Teilen aus hymnischen Schilderungen des Herrn Ernst Albert. Auch so eine Unsitte der Zweibeiner. „Eigentlich ist das ja so. Und dann siehst das so aus! Mußt Du Dir vorstellen!“ Ist aber nicht! Jeder guckt eigenverantwortlich. Gestern ist Postkarte. Doch der zweibeinige Begleiter verstummte recht schnell. Auch er genoß es über die alte Stadt zu blicken. Wer in einer häßlichen kleinen Stadt lebt, muß seine Augen ab und an auf Erholungsurlaub schicken. Ruhe trat ein und Archibald konnte nachdenken. Seltsam! Da setzen sich die Aufrechtgeher in Jahrzehnte währender Arbeit, ach, Jahrhunderte hat es wohl gedauert, ein göttliches Gotteshaus ins Zentrum ihrer schönen alten Stadt, um dann später mit ihren Fossilsaft saufenden Blechmilben ununterbrochen dieses Denkmal zu umrunden, bis der empfindliche Sandstein, aus dem es errichtet wurde, porös wird und bröselt. Und wenn sie hinten fertig sind mit dem Restaurieren, müssen sie vorne wieder anfangen. Der neue Götze frißt die alten Götzen.
Der Tag schritt voran. Unten hupte man sich gegenseitig wach. Oben Visionen von einem Frühstück. Der Morgengesang der Vögel verstummte. Man machte sich an den Abstieg. Falsch, man machte sich an die Abfahrt. Nein, keine Faulheit. Man will dem Bären etwas bieten. Und das Hinuntersteigen geht bekanntlich auf die Knochen. Ehemals abbes Bein nicht vergessen! Die Bergstation. Kein Aufrechtgeher weit und breit, welcher das blaue Gefährt bediente. Aber Hinweistafeln. Viele Hinweistafeln. Buchstaben und Anweisungsbilder. Geld in Schlitze werfen, Papiere in andere Schlitze stecken, Türen auf, Piepton, Türen zu und Archibald schwebte auf glitzernden Eisen hinab in die Stadt. Fand er klasse. Ganz unrevolutionär. Unten rauschte es an allen Ecken und Enden. Man brauchte dem Rauschen nur zu folgen. Das taten sie.