Beitrags-Archiv für die Kategory 'Archibalds Geschichte'

SAMUEL B. ERBARMT SICH DES NACHTS HERUMLIEGENDER BUCHSTABEN

Mittwoch, 20. Oktober 2010 9:03

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Neben, unter und auf dem Bücherregal, von dem aus Archibald in die Nacht schaute und verdaute, lagen etliche herrenlose Buchstaben herum. Sie waren am großen Sieb des großen Samuel B. vorbeigefallen und etwas verwirrt. Wer mit welchen anderen Buchstaben sinnvolle, erheiternde oder auch einfach nur belanglose Wörter oder Sätze bilden sollte, das war ihnen im freien Fall entfallen. Da konnten die leeren Buchhüllen, zwischen denen die meisten von ihnen lange Jahre ein Zuhause gehabt hatten, noch so aufgeregt nach ihnen winken, um sie zur Rückkehr zu bewegen. Heimatlosigkeit machte sich breit zu Füßen des Bären. Über seinem Schädel und Denkapparat schwebte gnädig und verschmitzt der adlernasige Herr B. und freute sich an dem Chaos. Archibald fand es auch gut. „Kein Sinn macht mehr Sinn.“ Das dachte er und regte sich im selben Moment darüber auf, eine gänzlich dumme und komplett gedankenlose Aufrechtgehersprechblase nachgeplappert zu haben. „Sinn machen!“ Als ob man einen Sinn machen könnte. Falls es so etwas wie Sinn außerhalb der Notwendigkeit von Thunfischpizzen, Heidelbeermarmelade und Honigkuchen überhaupt gibt, kann dieser nämliche Sinn bestenfalls einer Sache, einem Ausdruck oder einer Handlung anheften. Und der Sprecher oder Handelnde transportiert so etwas wie Sinn, sprechend, handelnd. Und die Essenz von Sinn entsteht sowieso erst beim Rezipient. Denn man kann noch so Gescheites in die Welt setzen, wenn keiner zuhören will oder kann, ist dies was bleibt, ein großer Haufen Verdautes, den man ins Gebüsch gesetzt hat. Es riecht streng. Und sonst nichts.

Der Bär blickte hinauf zur Adlernase. Das Gewimmer der heimatlosen Lettern macht ihn doch etwas nervös. Was wäre eine angebrachte Bestattungsform für herrenlose Ex-Gedanken? Ist das Biomüll, weil noch letzte Reste von Leben drin rumzucken? Einäscherung? Oh nein, sehr ungute historische Assoziationen. Seebestattung? Keine Ahnung. Herr Samuel B. half dem Denkbärchen. Mit bedächtigen und spitzen Finger griff er Buchstabe nach Buchstabe und begann mit ihnen zu spielen. „Endlich!“ Das dachte der Bär. Und das kam beim Spiel des Herrn Samuel B. heraus: „Er nimmt seine Kappe ab. Friede unseren … Ärschen! Pause. Und wieder aufsetzen. Er setzt seine Kappe wieder auf. Null zu Null. Pause. Er nimmt seine Brille ab. Putzen. Er zieht sein Taschentuch heraus und putzt damit, ohne es auseinanderzufalten, seine Brille. Und wieder aufsetzen. Er steckt sein Taschentuch wieder in die Tasche und setzt die Brille wieder auf. Es kommt. Noch ein paar Albernheiten wie diese und ich rufe. Pause. Ein bißchen Poesie. Du riefest nach… Pause. Er verbessert sich. Du flehtest nach der Nacht; sie kommt… Pause. Er verbessert sich. Sie naht; sie ist schon da. Er wiederholt es mit singendem Ton. Du flehtest nach der Nacht; sie naht: sie ist schon da. Pause. Schöne Stelle.“

Archibald war eingenickt. Weil die Stelle so schön war. Und als Ernst Albert am nächsten Morgen seinen kleinen Genossen schlafend unter dem Porträt seines verehrten Herrn Beckett liegen sah, neben ihm das ‚Endspiel’, aufgeschlagen auf den Seiten Einhundertachtundzwanzig (französisch) und Einhundertneunundzwanzig (deutsch), da weckte er den Bären. „Komm mit, Archibald!“ „Was tun?“ „Schauen!“ „Wo?“ „Auf der anderen Seite der Straße.“

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DIE NACH OBEN OFFENE MAHLER-SKALA

Dienstag, 19. Oktober 2010 7:46

beckett

Und plötzlich war ihm, als sei der Himmel über seinem Kopf weggeflogen. Vielleicht kommt das davon, daß man gleichzeitig auf der Heizung sitzt und denkt. Ein im ersten Moment etwas seltsames Gefühl, welches sich aber innert kürzester Zeit als sehr angenehm entpuppte. Der Pöter glühte, der Kopf war dennoch kühl. Er wechselte den Platz. Er saß nun auf einem der Bücherregale in Ernst Alberts Arbeitszimmer. Seine Nase umschwirrten Hunderttausende ungelesener Buchstaben. Die waren zwischen ihren Buchdeckeln hervorgekrochen und hatten sich auf den denkenden Pelzträger gestürzt. „Lies mich! Bedenke mich! ICH bin es, der den Weg weist!“ Aber weil herumfliegende Buchstaben recht schnell die Orientierung verlieren, wußten die herumfliegenden Buchstaben bald nicht mehr aus welchem Buch sie ursprünglich gekrochen waren, um dem kleinen Bären die große Geschichte der undurchschaubaren Welt zu erzählen. Sie vermengten sich, fassten sich an den Haken und Häklein, tanzten miteinander und Archibald war es, als riechlese er ein einziges großes Aufrechtgeherbuch. Alles wichtig und alles doch vanitas. Alles gescheit und doch so unendlich dumm. Buchstaben sind gerne mal außerordentlich eitel, nur wissen sie dies oft gar nicht. Und der Himmel blieb offen. Nach oben.

Und dann waren sie weg, die eitlen und gescheiten Tänzer. Weggeflogen, nach oben, in den offen vor sich hinklaffenden Himmel. Archibald hatte einmal kräftig aus seinem Hirn rausgepustet, die Luft über seinem Räsonierschädel mit einem beherzten Ausdenker gereinigt und draußen graute ein kalter Herbsttag. Und der Bär saß vor sich hin und wußte, daß er ein Bär war und Archibald Mahler hieß, aber dies war ihm Wurst wie Schinken, denn wäre er kein Bär und hieße nicht Archibald, dann wäre er etwas anderes und das wäre dann auch nicht zu verachten. Den Himmel interessiert nicht, was unter seinem Gewölbe Spuren hinterläßt. Wichtig ist, daß man mit seinem strapazierten Schädel nicht gegen den Himmel stößt, weil man sich größer gemacht hat, als man sein sollte oder kann. Er spürte eine tiefe, wohltuende Müdigkeit durch seinen Leib kriechen. Er schaute aus dem Fenster und er mußte mit ansehen, wie schwer es die Helligkeit des Tages inzwischen hatte die kalte Nacht zu vertreiben. Und er wußte, was dies bedeutet.

Und dann rasselte und surrte es über seinem Kopf. Die Buchstaben kehrten zurück von ihrem Ausflug hinauf in die Stratosphäre der Bedeutungslosigkeit. Doch es waren sehr viel weniger Buchstaben geworden. So als wären sie bei ihrem Fall zurück zur Erde durch ein großes Sieb gerasselt.  Was man so alles nicht benötigt! Und die übrig gebliebenen Lettern formierten sich über Archibalds Kopf und er erkannte dies: „Wieder auf dem Sprung gegenüber dem unbezwinglichen Außen. Auge und Hand fiebernd nach dem Nicht-Selbst. Durch die von ihm unablässig veränderte Hand unablässig verändertes Auge. Zum Nicht-zu-Sehenden und Nicht-zu-Schaffenden vor- und zurückstoßender Blick. Ruhe im Hin und Her und Spuren dessen, was es heißt, zu sein und gegenüber zu sein. Tiefe wunde Spuren.“ Das hat der Herr Samuel Beckett geschrieben. Sagten ein paar einfache und dienende Informationsbuchstaben. Die muß es auch geben. Selbst wenn der Himmel mal weggeflogen ist.

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VOR DEM DENKEN IST NACHDENKEN! WART MAL!

Montag, 18. Oktober 2010 6:10

buddha

Und dann hat sich Archibald auf das nächtliche Fensterbrett gesetzt. Ernst Albert hatte lange und ausdauernd auf seiner Tastatur rumgetrommelt und Wein getrunken. Und dann war er müde geworden, aufgestanden und ins Bett gefallen. Die Schreibtischlampe hatte er vergessen auszuknipsen und die Karaffe mit den Weinresten ließ er einfach stehen. Auf Archibalds Fensterbrett. Neben dem kleinen dicken Mann aus rotem Stein, der so zufrieden vor sich hingrinste. Ein bißchen sah diese Figur aus wie ein komplettrasierter alter Bär. Hängebauch, Hängebrüste, Hängebacken. Fell weg, aber gut gelaunt. Archibald genoß die Ruhe. Wenn er sich konzentrierte, konnte er draußen vor dem Fenster die Blätter durch die kalte Nachtluft trudeln hören. Der Wind hatte die Straßen leer gefegt und die Aufrechtgeher zogen es vor – Oh Bärengötter, hört meine Dankgebete! – zu Hause zu bleiben. Die Nacht hatte heute Nacht Zeit und Muse, einfach nur Nacht zu sein. Kein sinnentleertes, verzweifeltes Fröhlichsein schrie durch die Dunkelheit. Die rollenden und stinkenden Blechmilben hielten ihre Räder still. Selbst der Kneipenwirt auf der anderen Seite der Straße hatte es heute Abend fertig gebracht, seinen Müll in und nicht neben die Tonne zu legen. Archibald kratzte sich Pöter, Abdomen und an der zufrieden herumschnüffelnden Nase. Eine gute Nacht. Zu gut, um zu schlafen. Eine freundliche Denknacht.

Man könnte zum Beispiel mal wieder über das Denken nachdenken. Also denken, bevor man denkt. Um das Nichts herumsinnen. Ohne Bescheid zu wissen. Kein angelesenes Viertel- oder Achtelwissen durch seine Hirnwindungen jagen und den Extrakt sich selbst als Produkt großartiger Selbstreflektion verkaufen und in die Denkvase stellen. In jene Denkvase, die man fett und gut beleuchtet auf sein Fensterbrett gestellt hat, in der Hoffnung jeder zufällig vorbeischlendernde Passant möge nun sein Haupt heben und erstarren in Bewunderung und Verzückung. Quatsch mit Soße, wie die Altvorderen gerne bemerkten. Weil, wenn Du im Zug sitzt, lecke das Messer nicht ab, denn wenn der Zug um die Ecke fährt, schneidest Du Dir Deine Wange auf. Auch daran gilt es zu denken. Und wenn Du denkst, denke nie an diejenigen, die Dein Denken vernehmen könnten. Doch wenn Sie vorbeikommen und sich freuen, daß einer denkt, der ein Bär ist und eigentlich schlafen sollte oder Fische essen und sich auf den Winterschlaf mental und leiblich vorzubereiten, dann freue Dich. Und dann kratze Dich noch mal am Pöter und sonst wo.

Die Heizung unterhalb Archibalds Fensterbrett bollerte lustig vor sich hin. Wenn das die Korrekten unter den Aufrechtgehern wüßten! Nachts! Der vergeßliche Ernst Albert und die heute – Ausnahmweise! – etwas faule Eva Pelagia bescherten dem Bären einen heißen Hintern. Gewiß denkt sich in einer Komfortzone etwas anders als zum Beispiel an der Südspitze Feuerlands. Aber sei es drum! Es war eine ruhige Nacht! Es gab keinen Grund die unsteten und hin und her mäandernden Bärengedanken irgendwelchen Komitees, Schlaumeiern oder Wichtigwissern unter die Nase zu reiben. Gegenüber des Denkbalkons namens Fensterbrett funkelten vereinzelte von Fernsehern beleuchtete Fenster. „Diese Nacht teile ich mit den ruhigen Schlaflosen!“ Das dachte Archibald Mahler, von der Insomnia geplagter Bär vom Brandplatz. Think!

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ARCHIBALD GEHT IN SICH UND GUCKT DANN WIEDER HERAUS!

Mittwoch, 6. Oktober 2010 15:30

portraet1

Und dann war er drin. Er schaute nach rechts, er schaute nach links. Und er dachte: „Aha!“ Oder: „So sieht es also aus in einem Bären!“ Und dann schaute er nach oben, und dann schaute er nach unten. Da hörte der Bär auf. Weil er da endete. In seinen Tatzen. Den Hinteren. Und wieder dachte er. Diesmal: „Soso!“ Und: „Hä?“ Oder: „Was mach ich eigentlich hier?“ Und er erinnerte sich. Vor wenigen Tagen, unten am Schrottplatz rechter Hand der Lahn, hatte er in einer der Zeitungen, welche ihm Herr Ernst Albert da gelassen hatte – eigentlich als Behelfskolder gedacht, aber man kann ja mal reinriechen – einen bemerkenswerten Satz erblickt. Der hieß so: „ZEIG MIR DEINE WUNDE!“ Und sogleich fing sein ehemals abbes Bein an zu jucken. Und er dachte auch gleich, daß das ein ziemlich schwachsinniges Aufrechtgehergeschwurbel sei. Weil er – obwohl eine traumatisierte Fundsache – nie auf die Idee käme, jedem dahergelaufenen Zweibeiner seine Anoperationsnarbe zu zeigen. Die kriegt Eva Pelagia einmal im Jahr zu sehen und dann wird das von ihr repariert und fertig ist. Aber man weiß ja nie. Also ist er dann doch mal in sich gekrochen. Vielleicht findet man ja was.

„Komisch!“ Das war jetzt ein neuer Gedanke von Archibald Mahler, dem Bären im Innern. Er schaute sich um. Viel Dunkelheit in so einem Bären drinnen. Man ahnt was! Es gibt Ecken, die etwas streng riechen. Unten. Oder in den Extremitäten. Es pocht. Gleichmäßige Schläge. Regelmäßig und rhythmisch. Blut rauscht. Pocht weiter. Den Bärengöttern sei Dank. Verdauungsaktivitäten. Auch gut! Und sonst? „Aha!“ Wenn man nach oben guckt, ganz nach oben, da wird am härtesten gearbeitet. Hirn heißt das Ding. „Arbeitet das oder stört das nur? Zwecks Verdauung benötigt man es nicht!“ Unterhalb des Hirns drangen Lichtstrahlen in das finstere Innere. Das erregte des Bären Aufmerksamkeit. Und froh über ein wenig Helligkeit war er auch. Schließlich war er ohne Taschenlampe in sein Innerstes aufgebrochen. Archibald kletterte nach oben und blickte aus seinen eigenen Augen hinaus. Die Augen hinter den eigenen Augen. Sie schweiften umher. „Soso! Ernst Alberts und Eva Pelagias Küche! Aha! Die sind weg!“ Der Blick glitt nach unten. Vor seinem kleinen, langsam anschwellenden Bärenranzen lag auf dem Küchentisch eine Zeitung. Aufgeschlagen. Da war ein Artikel zu sehen. Man befragte einen alternden Mimen. Man fragte ihn zum Beispiel, was er an Blättern so spannend fände. Und der antwortete: „Blätter bewegen und verändern sich laufend, die machen wunderbare Geräusche und Reflexe mit Licht. Das ist etwas, was einen sehr beschäftigen kann, ohne daß man dazu poetisch veranlagt sein muß.“ Da hat er ganz recht, der Bruno! Archibald zuckte. Kurz. “War der nicht auch mal Bär? Problematisch sogar?”

Und dann hatte er sich hingesetzt. Und war verwirrt. Er hatte das Gespür für die Zeit verloren. Dachte er zumindest. Weil das durchaus passieren kann, wenn man sich zu lange im eigenen Innern aufhält. Dann wird eine Stunde gerne mal zum Jahr.  Und dann geht es immer wieder von vorne los. Und man denkt einen Satz. Und dann wieder den einen Satz. „Ich bin in mir selber drinnen!“ Und wie kommt man da wieder raus? Archibald kratzte sich am Pöter. Und – das ist normal im Monat Oktober – bekam Hunger. Das ist gut, wenn man Hunger hat. Dann bewegt man den Pöter. Und: was den Hunger stillt ist draußen! Weil sonst müßte man sich ja selber aufessen. Das wäre ziemlich doof. Auch wenn viele Aufrechtgeher dies tun und dann dämliche Wortgeschöpfe wie „ZEIG MIR DEINE WUNDE!“ in die arme Welt setzen. Wo doch gerade die Blätter so schön fallen. „SCHWEB! ZITTER! GLEIT UND PFFFF!“ Draußen passierte etwas. Und der Bär brach auf. Raus! Noch fallen die Blätter!

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SPIEGLEIN, SPIEGLEIN DOCH NUR WAND!

Dienstag, 5. Oktober 2010 17:27

portraet2

Also wollte Archibald nachdenken. Er setzte sich vor einen Spiegel. Regungslos. Dann kam der erste Gedanke vorbei. Und es war kein Radfahrer, obwohl es vom Zufall her betrachtet schon möglich gewesen wäre, daß ein Radfahrer vorbeikommt, wenn man am FÜNFTEN Oktober anfängt zu denken. Wobei auch an jedem anderen Tag ein Radfahrer an einem Bären vorbeifahren könnte. Ob der jetzt denkt oder nicht. Archibald aber dachte. Nach! Wäre es zum Beispiel angebracht, die Art und Weise in der er sich seit Aschermittwoch ZWEITAUSENDZEHN in den Netzen der weiten Welt bewegt, zu ändern? Dem gebeugten Leser – Nein! Wir denken noch nicht einmal daran Sie zu duzen! – seine Weis- und Dummheiten aus der Sicht des Icherzählers auf den Monitor zu kleckern? Der Abdomen rumort und im Gedärm Schwärme der Empörung, aufsteigend und bitter. Bärengötter Ihr! So haltet den Zaum und meine lallende Zunge! Bundesweltweit blogtechnisch verglichen ist hier vor Ort das güldne Wortlein (Absicht!)  ICH in Unterzahl geblieben und dies soll so bleiben bis der Winterschlaf den Bären. Genau!

Jetzt die Augen auf Schlitz gestellt und tiefer und tiefer und noch tiefer hinein. Nur wohin? Wälder, Felder, Wiesen, Väter? Mütter, Nacht und Stunden später? Nur Verrat! Ach wie schad! Es drücken die Rücken! Mein Pöter? Entzücken! Ein Bär dem einstens in Sonneberg ein Knopfauge aufs Fell genäht: Schlitzaugen? Analytische Weltenschau? So schön gelb die Blätter vor dem Fenster und fallen oder nicht und hängen noch und doch am Baum und drohen nur. „In fünf Minuten, Bär, wenn Du nichts hinblickst! SCHWEB! ZITTER! GLEIT UND PFFFF!“ Von ferne klingt ein Saxophon. Ein altes Lied. Man kennt es schon. Andererseits wäre es schade bei diesen Temperaturen die Fenster zu schließen. Vielleicht kommt jetzt ein Radfahrer vorbei. Aber er tut es nicht. Dann eben der Flieger. Grüß mir die Sterne und die Hefeteige, die aufgegangen. Jetzt schiebt einer sein Fahrrad vorbei. Wenn viele Blätter auf dem Boden liegen und der Regen! Jawoll! Vernunft! Nun die Korrekturen! Spiel doch Klavier! Kann er nicht, der Bär!

Archibald hatte recht schnell herausgefunden, daß er nicht der ANDERE ist. Der aus dem Spiegel. Der Rübergucker. Angucker. Gegenstarrer. Außerdem hatte der Sprecher seiner Krankenversicherung, Herr Thomas Adam Holtby von der Bärensozialkasse ihm gerade schriftlich mitgeteilt, daß eine wie auch immer geartete Therapie in den nächsten zehn bis dreizehn Jahren keinerlei Chance auf Gewährung hätte. „Ich brauche mehr Heidelbeermarmelade und zwar sofort!“ Keinerlei Bewegung im Raum! Weder drinnen, noch auf der anderen Seite. Nicht einmal ein Radfahrer schiebte vorbei. Archibald bemerkte, wie wunderbar sinnlos es ist, Forderungen in einen Spiegel zu brüllen. Vehemenz! Und Rainer hat geguckt! Wenigstens der! Der hat’s auch sonst recht schwer! Als der Patient war weggerannt, da sprach der Arzt von Larmoyanz! Archibald Mahler, heute seinen literarischen Werkeltag begehend, neigte sein Bärenhaupt zur Seite. Von dort drang Musik an sein Ohr. Ernst Albert wühlte im historischen Plattenschrank. Archibald klopfte an seinem Bauchnabel an. Man gewährte Einlaß. Er ging in sich.

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„LISTEN GI, YOUR BÄR IS BACK IN TOWN!“

Samstag, 2. Oktober 2010 21:47

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Nicht daß es notwendig wäre, eine Hotline einzurichten. Jedoch: es gab Anrufe, sorgenvolle Anrufe. „Der arme Kerl! Die Kälte! Der Herbst! Regen! Nebel! Die Lage vor Ort und generell! Wer macht die Musik, wenn dieses Jahr zu Ende geht? Vielleicht wird der Schrottplatz rechter Hand der Lahn untertunnelt und man denkt an leitender Stelle beim Bären auf der Stoßstange des alten roten SIMCA handele es sich um einen Besetzer. Und mit dem Tränengas ist das Kapital heute auch schon wieder so schnell bei der Hand wie anno dutschkemal. Heiligsblechle aber au!“ Dem Bär war das alles nicht bewußt. Aber gefroren hat er dann schon. Nichts gegen Kälte! Aber die Nässe! Wenn einem im Schlaf alles unter dem Pöter wegglitscht. Kein Halt! Potzrembel und Auweia aber auch!

In der Höhle in der Archibald Mahler, dem Bären auf gelegentlichen Abwegen, normalerweise Kost und Logis gewährt werden, gibt es eher selten verbale Auseinandersetzungen. Aber als unlängst der Regen von Osten kommend quer gegen die Fenster schlug, sah sich Eva Pelagia, die Sorgenvolle, veranlaßt Herrn Ernst Albert auf seine Verantwortung in der Causa „Kleiner Bär nachts alleine auf einem Schrottplatz rechter Hand der Lahn und der Herbst ist längst schon da und alles kann einem nicht Wurscht sein, auch wenn die Mimen ständig rummoppern und Pflege brauchen, Herr Regisseur! Auch wenn ich mich da wiederhole!“ hinzuweisen. Ernst Albert mußte selbstredend der Dame seines Herzens und Verstands recht geben. Aber leider hatte er Probe. Und wer bestieg dann das regennasse Fahrrad, fuhr hinunter an die Lahn und verhinderte in letzter Sekunde, daß ein kleiner frierender, aber trotzdem noch produktiv denkender Bär  in einem Anfall von Müdigkeit von der Stoßstange eines vor sich hinrostenden SIMCA geglitten und beinahe in eine septemberliche Pfütze gefallen wäre? Oder gar eine Kastanie oder ein armer Bullizist im Auftrag eines der bundesweiten BauRÄUSCHE einen Schlag? Lassen wir das!

In Your Town. Bei Ernst Albert (und natürlich Eva Pelagia, der wahren Hüterin der Ordnung und Wärme) läuft immer lustige Musik. Und die gute alte Fensterbank ist auch schon wieder beheizt. Und wenn man rausguckt aus dem Fenster ist die Kleine Häßliche Stadt immer noch da. Und gegenüber der Höhle, auf der anderen Seite der Straße: die kleine Dependance des Musentempels lebt. Da arbeitet zur Zeit Ernst Albert und winkt manchmal hoch in Richtung beheizter (sic!) Fensterbank. Sonst? Was der Aufkleber an seiner Seite soll, weiß der Bär nicht. Aber der Aufkleber stört ihn auch nicht. Aufrechtgeher bespiegeln sich gerne! Sonst? Viel hat sich nicht verändert auf der Fensterbank seit der Bär zurückgekehrt ist vom Schrottplatz rechter Hand der Lahn. Doch! Hinschauen und Hinhören! Eines noch! Der Lütte Stan hat sich einen neuen Namen zugelegt. Er möchte jetzt mit THOMAS ADAM HOLTBY angesprochen werden. Was dies nun wieder zu bedeuten hat? Das wird der Bär auch noch rauskriegen. Aber jetzt serviert Eva Pelagia erstmal Chips mit Marillenmarmelade und Thunfisch mit Äpfeln. Geht alles rein in so einen Bärenbauch. Bald ißt Winter. Hä? Wie meinen? Bald ist Winter. Oder? Und im Bilderapparat läuft Pöhlerei. Obwohl Ernst Albert tote Hühner kocht! Und alle reden von einem Lewis Holtby. „Das ist ja interessant!“ Aber eigentlich ist Archibald heute nur eines: müde! „Tor! Tor! Tor! Tor! Spitzenreiter! Immer noch!“

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Archibald sagt heute: “Ich bin dann mal weg und auf breiten Walzen hinunter zum Fluß!”

Montag, 31. Mai 2010 15:48

weg1Er stand vor seinem Gedankenschrank. Er dachte nach. Er versuchte dies zumindest. Die Nachwirkungen der letzten Feierlichkeiten waren nicht mehr zu spüren. Kaum noch, um präzise zu bleiben. Was war zu tun? Die Expedition „Angstmuzak“ fortsetzen? Oder ein Resümee ziehen? Draußen vor dem Fenster roch es seit gestern nach Euphorie. Ein kleines, lustiges Mädchen hatte sie herbeigesungen. Eigentlich schön, wenn ein zutiefst verängstigtes Land sich freut. Und es roch nach Regen. Archibald kratzte sich am Hintern. Die Reise in den Osten vorletzte Woche, sie ging ihm nicht aus dem Sinn. Die Gespenster, die alten Pfade, auf denen Ernst Albert mit ihm dort drüben gewandelt war. Selten hatte er seinen Herrn und Meister so aus der Zeit gefallen gesehen. Archibald mochte das, den forschenden Blick, das konzentrierte Erinnern, das Danebengreifen und im selben Moment das Weitersuchen. Sollte er sich doch mit seiner Geschichte vor der Geschichte befassen? Abbes Bein? Anoperation? Vielleicht! Sein Kumpan Der Lütten Stan war beschäftigt und kaum mehr ansprechbar. „Große Pöhlerei Festspielwochen!“ Ernst Albert und Eva Pelagia hatten damit zu tun, das zur Zeit etwas bockige Eselchen Alltag wieder zum Laufen zu bringen. Die kleine häßliche Stadt war voller schreiender kleiner Aufrechtgeher, die auf fürchterlich häßlichen Plastiksauropoden herumkletterten. Archibald war heute, als wäre die Welt der Aufrechtgeher eine Dampfwalze, die sich von hinten an einen unschuldigen Bären herangeschlichen hatte. Wissen die Zweibeiner eigentlich, wie man bremst? Einatmen. Ausatmen. Das tat er nun, der Bär. Zweimal und kräftig.

weg2Ganz anders! Alles anders! Archibald reckte seine Nase in die Luft und er roch den nahen kleinen Fluß, der die kleine häßliche Stadt bisweilen entscheidend erträglicher macht. Und er wußte im selben Moment, daß ein einfacher Potzrembel-Tag ihm nicht helfen würde. Er benötigte ein stärkeres Mittelchen. Er benötige dringend zehn bis vierzehn Wassertage, hochdosiert. Bären, wie auch die entfernt verwandten Aufrechtgeher bestehen nun mal in der Blüte ihrer Jahre zu über sechzig Prozent aus Wasser. Und offensichtlich wirkt die Nähe von Wasser auf einen etwas verwirrten, extrem wasserhaltigen Organismus defragmentierend, also beruhigend, ordnend und reinigend. Nach einer intensiven Wasserkur fließt der Strom des Denkens mit neuer Kraft und betrachtet im Flußbett der Gedanken Herumliegendes nicht mehr nur als Hindernis, sondern als herausfordernde Garnitur und vertraut wieder auf die Zeit und die Kraft des steten Tropfens. Ein altehrwürdiger japanischer Dichter hatte einst auf seinen Wanderungen herausgefunden, daß die Wirkung einer Flußschaukur durch das tägliche Verfassen eines Haikus in freier Natur immens gesteigert werden kann. Zwei alte Bücher aus Ernst Alberts Bücherschrank riefen Archibald zu: “So ist es! Höre, Bär: Und ich bewarb mich beim US-Landwirtschaftsministerium um einen Job als Brandwache im Mount-Baker-Nationalforst im Kaskadengebirge im grandiosen Nordwesten. Ja, Bär, ja!” Und: “Laß schwellen Deine Brust, oh Bär! Der heilige Ti Jean hat Dich gesegnet! Heilig, heilig, heilig! Alles heilig! Töte den Moloch, der in Deine Seele eingedrungen.“ Archibald wußte zwar nicht, daß ihm soeben zwei alte Beatnikgespenster zur Erfindung des „Große Bären Zen“ gratuliert hatten und auch schienen ihm die Rufe, welche er aus dem Bücherregal vernommen hatte, etwas arg verstaubt und pathetisch, aber er spürte, daß es  höchste Zeit war das Steuer der Dampfwalze Welt in die eigenen Hände zu nehmen.

weg3Der Aufbruch erfolgte schnell, aber ohne Hektik. Archibald bat Ernst Albert um einen alten Schal. Dieser sollte ihm als Decke, Schlafsack oder Regenmantel dienen. Eigentlich eines richtigen Bären nicht würdig, aber Herr Lenz ist dieses Jahr nun mal eine kalte und nasse Drecksau und als Hausbär ist in Sachen Abhärtung doch noch einiges zu tun. Eva Pelagia steckte ihm zwei Büchsen mit Thunfisch sowie ein angebrochenes Glas mit Heidelbeermarmelade zu und bat den Bären inständig auf seine neuen Anoperationsnarben achtzugeben. Dem Lütten Stan versprach Archibald pünktlich zum Beginn der „Großen Pöhlerei Festspielwochen“ wieder in der gemeinsamen Höhle aufzutauchen. High five und Abmarsch! Und dann gab Archibald Gas. Die Dampfwalze Welt rumpelte langsam Richtung Fluß. Archibald hielt das Steuer fest in seiner Hand, anfangs etwas unsicher, doch jeder Meter brachte ihn ein Stück weiter. Er pfiff ein Lied vor sich hin. Nein, nein: nicht das Lied des lustigen Mädchens vom Samstagabend. Etwas von Dauer. Leider fiel Archibald im entscheidenden Moment nicht ein, wo sich die Bremse befand. Unaufhaltsam rollte die Dampfwalze auf den kleinen Fluß zu.

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Man läuft nicht alleine, wenn man schaut wie der Fluß vorbeifließt (Auerbachs Keller revisited)

Freitag, 28. Mai 2010 15:37

hundert_tage2

„Herr Mahler, kann ich Sie etwas fragen? Auch hier und jetzt?“

„Können Sie? Dann tun Sie es!“

„Kurz und bündig: Haben Sie eine Vorstellung davon, wie wir beide in diese Lage gekommen, gerutscht oder gefallen sind? Haben Sie eine konkrete Erinnerung daran, zu welchem Zeitpunkt die Änderung unserer Lage in dieser Radikalität eintrat? Oder ist ihnen der Ablauf der letzten Stunden noch so detailliert vor dem inneren Auge, daß Sie mir mitteilen können oder zumindest den ein oder anderen Anhaltspunkt zur Verfügung stellen würden, wann und wie und wo und warum – das sei nicht vergessen – die Änderung unserer Lage eintrat und in der jetzigen Manifestation ihr Ende fand? Ist Schieflage ein angemessener Ausdruck dafür? Was meinen Sie, Herr Archibald Mahler und Bär vom Brandplatz?“

„Dies nun nennen Sie nun kurz und bündig?“

„Gewissermaßen ja, war es doch Ihr leuchtendes Vorbild, welches mich davon überzeugte all meine Äußerungen unter dem von Ihnen oftmals propagierten Banner der Präzision zu formulieren, präzise in Form, Inhalt und Ziel der getätigten Aussage, in hörbarer Abgrenzung vom allseitigen Faul- und Dummsprech der Kaste der Aufrechtgeher. Kritisieren Sie mich nun bitte nicht, wenn meine Wenigkeit tätig Ihrem Ansatz huldigt!“

„Sie übertreiben und ich habe Hirnweh!“

„Nun dennoch, die Antwort!“

„Schwerkraft!“

„Sie meinen lediglich das Phänomen der Gravitation war es, das unsere Körper aus der Vertikalen in die Horizontale beförderte?“

„Schwerkraft und Braukunst, wenn ich präzise sein will!“

„Ein mir bis jetzt unbekanntes Phänomen!“

„Das komm davon, wenn ein bis gestern überzeugter Karottennager sich plötzlich über Frankfurter Würstchen hermacht!“

„Köstlich waren Sie, köstlich, vor allem wenn man sie vor dem Genuß eintaucht in diese schäumende gelbe Flüssigkeit. Fatal köstlich.“

„Allerdings: fatal. Kalte Würstchen in warmes Bier getunkt. Mein Magen protestiert!“

„Ach, man gibt plötzlich das Sensibelchen. Ich zitiere in diesem Zusammenhang lediglich und das vollkommen unauthorisiert: in Honig eingelegtes Aas, Lachs an Heidelbeersoße, überbackenes Bisamrattenschnitzel und mit Thunfischstückchen gefüllter Schafsdarm aus einer Zweibeinermülltonne. Alles ganz oben notiert auf den Bärenspeisekarten dieser Welt und jetzt wehleidiges Rumgemopper, wenn unsereins nichtsahnend totes Tier in Bier stippt.“

„Mir ist schlecht!“

„Mir auch!“

(Eine lange Zeit  wird geschwiegen, sich sortiert, leises bis lauteres Stöhnen im Zweiertakt, Gedärme rumpeln, Gase entweichen, die Fenster werden geöffnet. Das Licht scheint den Anwesenden zu hell.)

„Herr Mahler?“

„Herr von Lippstadt-Budnikowski  auf Datteln?“

„Zu, bitte, zu!“

„Ja, das war man gestern!“

„Zu Datteln! Nicht auf Datteln!“

„Makrele auf Datteln! Das wäre es jetzt!“

„Sie sind überzwerch, Herr Bär!“

„Das macht der Kater im Bären!“

„Schön war sie trotzdem, unsere kleine Feierlichkeit zum hunderttägigen tätigem Weltguckjubiläum!“

„Wissen Sie, Freund Lütten Stan, ich sage immer: feiern Dich nicht andere, feiere Dich selber. Alte Solitärbärweisheit aus Kamschatka bei Wyoming.“

„Da sagen Sie was Wahres. Wird gespeichert!“

„Geht doch. Das war jetzt mal bündig und kurz.“

„Könnten Sie noch einmal dieses Lied singen vom gestrigen Abend?“

„Ach, ich weiß nicht!“

„Und wenn ich Sie ganz fest bitte?“

„Sie sagen es nicht weiter?“

„Hömma: großet Ehrenwort und keine Fingers gekreuzt hinner dem Hasenpöter! Kannse woll glauben, Du alten Brummbär!“

(Herr Mahler beginnt zu singen, bald stimmt Herr von Lippstadt – Budnikowski zu Datteln ein. Im Hintergrund beiläufig lebensfroh eine Flasche Licher Pilsner.)

„Uns ist ganz kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen! Uns ist ganz kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen! Uns ist ganz kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen! Uns ist ganz kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen!“

(Im Hintergrund leicht schwankend der Geheimrat mit erhobenem Zeigefinger. Sein alter Freund Mephistopheles steht neben ihm, grinst wie ein Koch, der gerade die Kelle in den Suppentopf geworfen hat, schwingt sich feixend auf die Bierflasche und reitet auf seinem Glasroß durch das geschlossene Fenster hinaus in die feuchte Frühlingsluft.)

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Man läuft nicht alleine, wenn man schaut wie der Fluß vorbeifließt (Vorspiel auf dem Fensterbrett)

Donnerstag, 27. Mai 2010 15:48

hundert_tage1

Die Herren und Damen Aufrechtgeher bewerten ja gerne. Häkchen dran und so. Etikett und Label. Branding. Die Realität formatieren. Punkt. Und dazu gehören auch die ersten hundert Tage einer neu aufgenommenen Tätigkeit, Aufgabe, Arbeit, Beziehung oder was auch immer. Gebt mir hundert Tage Zeit und ihr werdet sehen, was ich nicht sehe. Haben Sie, was wollten Sie, was versprachen Sie und wo laufen wir denn jetzt, Herr Archibald Mahler? Warm. Wärmer. Kalt. Lauwarm. Kalt. Puuh und Winnie! Da saß er wieder der Bär, auf der Fensterbank, wo alles begann, einst am Aschermittwoch dieses Jahres  und schaute. Heute in Cinemascope. Was sah er? Die Zweibeiner rasten weiterhin in die Kaufbuden, ließen ihre vierrädrigen Blechmilben aufheulen und grämten sich oder auch nicht. Die Luft war nur unwesentlich wärmer als im Februar, aber es regnete nicht. Draußen zumindest. In des Bären aufgeregten und hibbeligen Synapsen jedoch regnete Unausgegorenes und Unvollendetes in die Fächer und Regale seines Gedankenschrankes. Sein Kleinhirn rauschte wie der Rheinfall zu Schaffhausen bei Hochwasser. Hundert lange, kurze, schöne und manchmal grausige Tage lagen hinter ihm. Bilder, Düfte, Anekdötchen, Querverweise, Kreuzerinnerungen und schon wieder vergessen. Soll ich jetzt ein Resümee ziehen oder nicht und wenn, dann wie und wo und warum und wo sitzen wir gerade? Das Telefon klingelte unentwegt. Gratulanten. Der Herr Geheimrat ließ anrufen. Aus der Stadt mit den Türmen der Gier übernahm es die Frau Mama und schickte ein Tupperware-Döschen mit „Grie Soß“. Aus der schönen Stadt im Osten tat es Frau Vulpius und schickte  zwei handgeflochtene Thüringer Klöße. Herr Hoeneß Ulrich war immer noch extrem gut gelaunt und verzieh alte Beschimpfungen bezüglich des Ersten FC Pommes Schranke und sprach auf den AB. Herr van Gaal, das Feierbiest, schenkte Archibald via SMS ein Zitat. „Heute morgen glaubte ich, ich sei tot, aber Du bist eine Gladiole.“ Woraufhin Herr S. Beckett anrief, und fragte, wo dieses Zitat käuflich zu erwerben sei zwecks Weiterverwertung. Er beabsichtige das „Endspiel“ zu aktualisieren, posthum und via Himmelsleitung. Er hatte Pech, denn das Zitat wurde heute schon feierlich zu Händen Frau Eva Pelagia weitergereicht. Herr Löw rief an, um zu sagen, daß er nicht anrufe. Herr Hermann Siddharta ließ grüßen als Vorsitzender des Verbandes „Professionelle Wasserbetracher mit Zeit e.V“.  Zwei Bären aus dem Heckerland namens Karamazow und Parkinson hatten eine Postkarte geschickt, Absender  c/o Justizvollzuganstalt Freiburg. Die zwei Genossen hatten wohl eine Horde befreundeter Bären befreit. Die Höhe des dabei verursachten Sachschadens bewege sich im vierstelligen Bereich. Aber es ginge ihnen soweit gut.  Herr Lenz ließ sich zum wiederholten Mal entschuldigen. Er habe Probleme mit der Installation seines Wärmeprogrammes, Herr Wintersen habe ihm da einen veritablen Bug ins Betriebssystem gesetzt. Und Herr Robert Zimmermann? Er dachte an Archibald, solidarisch. Eva Pelagia hatte den Frühstückstisch mit in Heidelbeeren und Honig eingelegten Lachs garniert, Ernst Albert sang „Man gave name to all the animals“ und Herr von Lippstadt – Budnikowski zu Datteln vermachte seinem Kumpan ein Paninisammelalbum aus dem Jahre neunzehnhundertneunundachtzig. „Hömma, dat is von Nobby Dickel höchstpersönlich mit seine Unterschrift signiert. Dann kannse bei Ibäh Dollares ohne Ende für erzielen.“ Im Hinterhof steppte eine Horde Sauropoden den Mittelhessenblues. Volker Bouffier ließ sich entschuldigen. Er müsse heut Abend kochen.  Frau Grobe – Balz auch und sie könne nur kommen, wenn man sie mit Herrn Archibald Mahler pressetauglich ablichtete. Archibald, der Bär,  verzichtete. Hotte “Der Ehrenbürger” Richter seinerseits dachte noch nach. Das dauert. Die Glocken am Kirchplatz gaben alles. Achtzehn Uhr. Volljährig nun ist der heutige Tag. Kein Grund zu klagen.

Draußen vor dem Fenster ein Hauch von Sonne, viel Himmel über Archibalds Kopf und er war sich sicher, daß da erstens noch einiges geht (Vorsicht: keine Nachlässigkeit im Sprachduktus und herzlichen Glückwunsch zu den ersten hundert von tausenden Tagen: Dein Setzer) und er freute sich darauf, weiterhin auf die Welt zu schauen und all diese Geschichten auf sich niederregnen zu lassen. Herr von Lippstadt – Budnikowski hielt sich im Hintergrund, studierte WM – Spielpläne und blies seine Vuvuzela warm. „Hömma, Pilsken is am waamwerden!” Nun denn, ein kleiner Jubiläumsumtrunk wartete wohl. No sleep till Hammersmith! Stößchen!

Thema: Archibalds Geschichte, Draußen vor der Tür | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Zurück am Fenster, Blick in den Gedankenschrank und die Notwendigkeit sich zu organinizieren

Montag, 10. Mai 2010 9:31

fenster_mai„Es wird hohe Zeit, daß ich beginne mich zu organinizieren!“ Dies hatte einst der berühmteste Taxifahrer der Welt namens Travis Bickle auf einen Zettel geschrieben und diesen neben seinen Badezimmerspiegel geklemmt. Da mag was dran sein. An dem Merksatz. Da saß Archibald also wieder am Fenster, an dem es begonnen hatte. War er noch jener von damals, war er ein anderer geworden? Etwas unschlüssig stand er vor seinem Gedankenschrank und blickte hinein. Viel lag da rum, an Nötigem, Unnötigem, Erhellendem und anderem Gerümpel. Was eben so im Laufe eines langen Zeitraums des Schauens und Betrachtens der Welt durch das Hirn rauscht. Eine wirkliche Ordnung war nicht zu erkennen. Doch dies war nicht des Bären Faulheit – Jaha, es gibt sie! – anzulasten, sondern der Struktur mancher Gedanken, denn selbst der unwichtigste, periphere, in Sekundenbruchteilen durchs Hirn geeilte Gedanken verfügt manchmal noch über einen sinnstiftenden Appendix und umgekehrt lagert und stapelt man gerne tausendmal durchgekautes unter der Rubrik „existentiell und zukunftsfördernd.“, und dann ist es nichts als selbstbeweihräuchernder Schrott. Da ist guter Rat teuer und die von vielen Seiten angemahnte Feng–Shuisierung der Gedankenschränke hohles und altkluges Geschwätz. Was tun?

Von Herrn Ernst Albert war heute keine Hilfe zu erwarten. „Steuererklärung!“ das war was er gesagt hatte direkt nach dem Aufstehen. Seitdem sprang er von Zettel zu Zettelchen, von Quittung zu Bescheinigung, von Formular zu Anlage und wieder zurück. Doch seine Laune war keine schlechte, denn gestern Abend hatten der gelbe Radauvogel und die Kleine Leitende Aufrechtgeherin mit den runtergezogenen Mundwinkeln und ihren schreibunten Jackets schwer einen auf den Deckel gekriegt. Das gefiel ihm.

Archibald befiel ein kurzer Moment der Trauer, als er sah, daß die große Kastanie vor seinem Fenster diesen Lenz nicht ausgetrieben hatte. Entweder die lange und gnadenlose Anwesenheit von Herrn Iwan Heribert Wintersen oder ein seltsame Krankheit hatten den Baum gemeuchelt. Wenige blätterbehangene Triebe schoben sich aus dem Stamm. So etwas sieht ein Bär nicht gerne. Hilfesuchend drehte er sich um in Richtung des Steuerfachmannes E.A. Der war mit anderem beschäftigt. Grober Klotz! Doch über dem Schreibtisch des Herrn Albert erblickte Archibald Mahler, nun wieder Bär vom Brandplatz, eine Postkarte. Ein zentraler Gedanke mit rettendem Appendix! Klar! Natürlich! Der Alte aus Bergedorf! Die Organinization! Hilfe nahte! Archibald schloß das Fenster. „Es ist immer noch schweinekalt, werter Herr Lenz! Aber jetzt weiß ich, wo anfangen!“

Thema: Archibalds Geschichte | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth