A. Mahler macht sich selbstständig / Befreiung

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Dieses Boot kannte er doch. Kleiner zwar und von Zigarettenqualm umweht und nicht vom feuchtkalten Westsüdwest. Damals als er mit Herrn Albert hier oben so manche Kaschemme besucht hatte, da stand das Boot auf einem der Tresen, an den Zapfhahn angekettet und mit oben einem Schlitz drin. Vor wenigen Minuten noch schaukelte das Boot – und jetzt ordentlich viel größer – über die Förde Richtung Möltenort und fischte einen durchfrorenen weiß – gelblichen Hasen, der auf dem Rücken einer Robbe durch die kalten Fluten ritt, aus dem Wasser. Der Schiffsführer und erste Retter, der den am Ufer von Holtenau entschlossen und wild Richtung Ostufer gestikulierenden Archibald Mahler an Bord genommen hatte, stoppte die Maschine, belohnte die Helferrobbe mit einem Sixpack Heringe. Und Mahler so wie Budnikowski wurden an Land gesetzt, nicht ohne sie mit den notwendig üblichen Belehrungen und Warnungen zu versehen. Besser ist das.

Die Langeweile sei es gewesen, die den Kuno von Lippstadt – Budnikowski diese nicht ungefährliche Reise antreten ließ. Mahler flüstert dem heftig nachbibbernden Gefährten eine Geschichte ins Ohr, genauer gesagt einen Essay. Den Essay aus  seinem liebsten Nachttischbuch, aus dem ihn der Herr Albert in letzter Zeit öfters vorgelesen hatte, wenn die Nächte mal wieder wacher waren, als sie sein sollten.

Eine Reise in die Langeweile

Robert Musil in ‘Grigia’: „Es gibt im Leben eine Zeit, wo es sich auffallend verlangsamt, als zögere es weiterzugehen oder wollte seine Richtung ändern. Es mag sein, daß einem in dieser Zeit leichter ein Unglück zustößt.“

Ja. Ein Jahr ist so kurz, und eine Stunde kann sehr viel länger sein. Wie in der Schule die Physikstunden nie enden wollten und die Turnstunden mit den hellweißen Bällen beim Volleyball so schnell wegflogen. Aber nicht nur für das einzelne Leben gilt das, sondern auch für eine ganze Gesellschaft. Die große Leere wird panisch mit großer Aktivität – Reisen, Sektierertum, Radikalisierung – gefüllt.

Musil schrieb seinen Satz im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg und in der Ahnung eines kommenden. Ich erinnere mich an die Bilder vom Kriegsausbruch: Rowdies, die endlich ihre Langeweile loszuwerden glaubten, indem sie auf andere trampelten.

Wichtig wäre es, mit der Langeweile im eigenen und im kollektiven Leben umgehen zu lernen, die scheinbare oder wirkliche Bewegungslosigkeit nicht mit erfundenen Aktivitäten und Betriebsamkeit vollzustopfen. Einmal nicht zu reisen, sondern die Landschaft vor dem Fenster oder die Landschaft des eigenen Lebens auf sich zukommen zu lassen

(Ilse Aichinger)

Und während der Bär in ein Gegenüberohr wisperte, der Hase nickend zuhörte und beide ordentlich Hunger bekamen, dachte Mahler darüber nach, ob er nicht eben mit sich selbst spräche. Möglich ist das. Dann lief man los und entdeckte im Hafen von Möltenort den alten Kahn.

„Budnikowski, lassen sie uns den Bauch dieses Kahns betreten und nachsinnen!“

„Gerne folge ich Ihnen, Mahler. Und des weiteren denke ich, daß am heutigen Tage das ganze Schländle die Arbeit niederlegen und nachsinnen sollte!“

„Gewiß! Und das auch noch die nächsten siebzig Jahre!“

„Sagen wir hundertsiebzig! Und zwar bei vollem Lohnverzicht!“

„Auch dies schadet nicht!“

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Dienstag, 27. Januar 2015 18:00
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