A. Mahler im Philosophenwald / EM BBB 1
Und weil Herr von Lippstadt – Budnikowksi dem Herrn Archibald Mahler ein sehr guter Freund geworden ist – ganze lange und erfüllte sechs Jahre ist das heute her, daß man sich kennengelernt hatte – hat Herr Mahler sich einen Stift geschnitzt, ein paar unbeschriebene Blätter von einer Kastanie geborgt, hört dem aufregten Lippstadt – Budnikowski zu und schreibt fleißig, da Herr von Lippstadt – Budnikowski ihm vorliest, was da in der Zeitung steht, die im Zug aus Polen zurück nach Mittelhessen lag und wie klug für diese Zeitung ein ehrenwerter Herr Joachim Hoell geschrieben hat über die Pöhlerei. Herr Mahler ist Linkshänder. Dieses ist der erste von fünf Teilen:
EM – Blut, Ball und Boden
Ein- und Ausfahrtsstraßen menschenleer, Rauchsäulen steigen in den dunstigen Abendhimmel, Raketen durchschlagen die gespenstische Stille. Im Schutz von Häusern und Cafés zusammengerottete Menschen, die bei einem Treffer in wildes, hysterisches Geschrei ausbrechen. Ein Schrei wie aus einer Kehle. Angst und Entsetzen in den Gesichtern. Heulen und Brüllen vor Schmerz. Der Feind hat sie böse erwischt. Der letzte Schuß war ein Treffer. Ein Volltreffer. Die gesamte Nation erschüttert. Millionen Menschen ins Herz getroffen. Die gegnerische Mannschaft hat ein Tor geschossen. Es ist Fußball-Europameisterschaft. Tooooooooooooor!
Schwierig, diesem Event zu entkommen. In Berlin-Kreuzberg, seit Jahrzehnten die Trutzburg der Unangepaßten, in der die sogenannten bürgerlichen Parteien zusammen keine zehn Prozent bei Wahlen schaffen, dafür grüne Fundis die absolute Mehrheit erringen und mit dem Altlinken Hans-Christian Ströbele den einzigen Direktkandidaten ihrer Partei für den Deutschen Bundestag stellen, in diesem Kreuzberg, Versuchslabor für Künstler und Lebenskünstler aus der ganzen Welt, ist es während eines internationalen Fußballwettbewerbs wie einer WM oder EM unmöglich, am Abend ein ruhiges Plätzchen zu finden. Fernseher und Kinoleinwände allerorten übermitteln die süchtig machenden Bilder von schwitzenden Männern in kurzen Hosen, die um einen Ball rangeln.
Kein öffentlicher Ort, vom Kiosk übers Café bis zum Restaurant, kann ausscheren, wer Profit will, muß mitmachen und die Übertragung der Spiele anbieten. Selbst in dem raren Fall, daß die Betreiber eines chinesischen Restaurants in Unwissenheit der Bräuche und Sitten ihres Gastgeberlands keinen Fernseher zum Public Viewing aufgestellt haben, ist der nächste Hotspot nicht fern, so daß akustisch keine Fluchtmöglichkeit vor dem Geplauder des Moderators, den Schlachtgesängen des Publikums im Stadion und dem Gebrüll des Publikums vor dem Fernseher besteht.
Vor zehn Jahren wäre diese offen zur Schau gestellte Begeisterung für einen Massensport wie Fußball an einem “linken” Ort wie Kreuzberg peinlich gewesen, vor zwanzig Jahren hätte sie zu gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt, doch heute malen sich viele die schwarz-rot-goldene Kreide ins Gesicht und montieren, in Ermangelung eines eigenen Autos, Deutschland-Wimpel an ihre Citybikes. Man lacht dazu, es ist ironisch gemeint, wir sind doch postpostmodern. Links sein und lustig sein ist eins geworden, Widerstand gegen den Mainstream leisten nur noch unverbesserliche Spaßbremsen, die Kultur der Masse hat die letzten Bastionen des Widerstands überwunden. Dialektik der Aufklärung. (Fortsetzung folgt)
Und das hat Herr von Lippstadt – Budnikowski den Herrn Mahler noch gebeten, daß er dies verlautbare. Nämlich, daß alle schräg markierten Worte der Herr Autor Joachim Hoell geschrieben habe. Wenn er das lese und nicht wolle, daß es hier stehe, solle er Bescheid geben, dann werde es weggemacht. Übrigens: Das erste Mal standen diese Worte am 23. Juni im Kontext, der Internetzeitung aus Stuttgart und TAZ – Beilage.