„Ich finde das nicht in Ordnung, den Leuten Angst zu machen.“, sagte der Alte aus Bergedorf

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Natürlich wußte Archibald nicht, daß der Alte aus Bergedorf (Präzise bleiben! Schon seit langem aus Langenhorn! Euer Setzer) letzten Freitag diese Worte gesprochen hatte, als man ihm wieder mal einen Preis verliehen hatte, und er rauchend und im Rollstuhl sitzend die Glückwünsche entgegengenommen hatte, wahrscheinlich aus den Händen inzwischen auch erwachsener Zweibeiner, die ihn zu Zeiten ihrer Jugend noch ob seiner „Sekundärtugenden“ verspottet hatten. Zeiten ändern sich und nun hängt man an den Lippen des alten Nordlichts, als tropfe da der Honig der erlösenden Antworten auf alle brennenden Fragen der Aufrechtgeher herab. Aber diese Postkarte, die Ernst Albert über seinen Schreibtisch gehängt hatte – natürlich ein Geschenk der feinfühligen Eva Pelagia – diese Postkarte, die ein gemaltes Portrait des Alten zeigte, mochte Archibald sehr. Was sah Archibald? Ein grauhaariger Mann, sein Blick offen und konzentriert, schaut hinaus in die Welt und scheint dort etwas zu suchen oder er denkt nach. Umgeben ist der Mann von tanzenden, schreienden und tobenden Gestalten. Diese scheinen verletzt, in wilder Panik und aus allen Wunden blutend. Hinter dem rechten Ellenbogen des Mannes liegt gar ein Totenkopf. Dies alles scheint den Grauhaarigen nicht davon abzuhalten weiterhin konzentriert und gelassen in die Welt zu schauen und nachzudenken, was zu tun ist und was zu lassen. Auch die Tatsache, daß sein Schlips aussieht wie ein Wasserfall aus Blut, so als habe ihm ein unbekannter Feind ein Messer in die Kehle gerammt, irritiert ihn offensichtlich nicht.

Ernst Albert war einer derjenigen gewesen, die den Vorgänger des Alten aus Bergedorf verehrt hatten – jenen trinkenden, Frauen taumeln machenden, Männer die Zähne fletschen lassenden, im großen und richtigen Moment das Knie beugenden Aufrechten, den knarrenden, mitreißenden und hadernden Redner, den alle beim Vornamen nannten, damals. Seinen Nachfolger, ihn mochte man nicht. Kalt, rechthaberisch, nordisch, utopiefrei sei er. „Wenn Sie Visionen haben, gehen Sie besser zum Arzt!“ Das hatte er gesagt. Das mochte man nicht hören in den Goldenen Tagen. Da fuhr man lieber nach Bonn und hatte öffentlich Angst. Da das Ende der Welt angeblich bevorstand, machten Hunderttausende mit. Willy sprach, alles toste und tobte und Helmut allein zu Hause. Damals. Wieder und wieder ändern sich die Zeiten. Und dann hatte Helmut Recht bekommen. Und Willy ist tot. So ist das manchmal. Lange hatte Ernst Albert gebraucht, um die Begriffe Pflicht und Vernunft in seinen Wortschatz wohlwollend zu integrieren. Und viel später hat ihm der Alte aus Bergedorf sogar etwas zum Geburtstag geschenkt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Also betrachtete Archibald Mahler, genesener Bär vom Brandplatz, die Postkarte und er ahnte und seine feine Nase bestätigte ihm dies: wenn er jemals Ordnung in seinen Gedankenschrank bringen wollte, eines darf ihn nicht lenken: und das ist die Angst. Das Leben ist ein anstrengendes Leben und eine blutige Krawatte hat man sich schnell geholt, aber das ist noch lange kein Grund sich Angst einjagen zu lassen, von denen, die Spaß daran haben, die Angst zu verbreiten. Und die Postkarte sprach: „The woods are lovely, dark and deep / but i have promises to keep / and miles to go before i sleep / and miles to go before i sleep.” Eigentlich sind die Worte von Robert Frost geschrieben. Warum sie aus der Karte sprechen? Weil der Alte aus Bergedorf sie mag, diese Worte. Und Archibald auch.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Dienstag, 11. Mai 2010 15:30
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