Beitrags-Archiv für die Kategory 'Im Heckerland'

Wie Archibald am Fluß saß und den Türmen der Gier seinen Allerwertesten zeigte

Dienstag, 4. Mai 2010 17:30

frankfurt1Archibald konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, daß Ernst Albert gerade dabei war, sich zum Bärenversteher zu mausern. Hatte er den Bären noch bei der Hinreise ohne Rücksicht auf die reiseungeübte Bärenseele in einem gewaltigen Rutsch in den Süden exportiert, legte man nun auf der Heimreise einen  Zwischenstopp ein. Sicherlich auch der Tatsache geschuldet, daß die gestrigen Abschiedsfeierlichkeiten bei Herrn Albert Spuren hinterlassen hatten. Und frische Luft soll ja bei gewissen Zuständen Wunder wirken. Oder ein im Freien genossenes KB. Man setzte sich an das Ufer des großen Flusses, der wenige Meter vom Bahnhof entfernt, die Ganz Große Stadt durchschnitt. Und Archibald sah: dort wo in der alten Stadt, die sie gerade verlassen hatten, ein wunderschöner Kirchturm die Dächer überragte, waren es hier die Kathedralen eines ganz anderen Betvereins. Es waren die Türme der Gier, die weithin sichtbaren Botschafter der Glaubengemeinschaft ‚Kräfte des Freien Marktes / Unbegrenztes Wachstum und Peanuts im Arsch des Herrn so gern’. Archibald fand diese Türme recht häßlich, Ernst Albert machten sie jedes Mal, wenn er sie sah, wütend. Ursprünglich gegründet, das Ersparte der Aufrechtgeher zu verwalten und zu beschützen oder sinnstiftend zu verleihen, waren die Obermuftis der Glaubenskongregationen inzwischen dazu übergegangen, das was man Ihnen anvertraut hatte, mit großer Freude zu verzocken, indem man sogenanntes schnelles Geld machen wollte, das Ganze aber dann im großen Stile in den Sand setzte.  Und dann hob ein lautes Krakeelen an, diejenigen, welche das verzockte Ersparte verloren hatten, mögen nun bitte den Schaden begleichen, sonst ginge alles komplett den Bach herunter und zwei Euro würde man auch gerne beisteuern zum rettenden Paket. Aber jetzt müsse man erst mal vom Acker, Mann, ins Ferienvillachen, sich von dem ganzen Stress erholen. Ernst Albert hätte kotzen können. Man steuerte ein Büdchen an. Ein netter Aufrechtgeher aus dem fernen Pandschab verkaufte ihnen ein KB.

frankfurt2Das KB, obwohl recht früh am Tage, mundete und linderte Gliederschmerz und Herzenswut. In Ansätzen, doch nicht völlig. „Mein lieber Archibald. Das Bier von hier, das den gestrigen Abend kontert, trägt den Namen Henninger. Schmecken tut es nicht wirklich, aber: when you in Rome, do as the Romans do. Und außerdem, ich trinke und gedenke. Denn jedes Jahr im Lenz gibt es hier ein Radrennen rund um die Brauerei, die diese Plörre in Flaschen zapft. Und, das mußt Du Dir mal reintun, was früher ‚Rund um den Henninger Turm’ hieß, heißt nun ‚Rund um den Finanzplatz Eschborn Frankfurt’. Sponsoring nennt man das. Wie groß müssen deren Köpfe sein, daß da soviel Scheiße hineinpaßt? ‚Rund um den Finanzplatz Eschborn Frankfurt’ Oweia! Oder wie Du gerne bemerkst: Potzrembel aber auch!“ Wenn Ernst Albert verkatert ist, ist seine Weltwut grenzenlos. Archibald ließ ihn gewähren und lieh sich einen Schluck des KB namens ‚Rund um den Finanzplatz Eschborn Frankfurt’. Macht Geld eigentlich besoffen? Offensichtlich mehr als Alkohol. Ein Ausflugsschiff fuhr vorbei. Er war benannt nach dem größten Sohn der Ganz Großen Stadt, ein manischer Vielschreiber, veritabler Trinker, Geheimrat in Thüringen und Liebhaber der Grünen Soße seiner Mama. Das beruhigte ungemein. „Laß uns die Seite wechseln, Genosse! Hier sind wir falsch!“ “Falsch?” “Falsch, so wahr ich lebe!”

frankfurt3Sie hatten auf einem Eisernen Steg den Fluß gequert und streckten nun den Türmen der Gier ihren Allerwertesten entgegen. Was sie nun sahen, war weitaus erfreulicher. Auf der gegenüberliegenden Seite reihte sich ein Museum an das andere. Man erblickte ein Plakat. In der schönsten und größten der Ausstellungshallen werden seit einigen Tagen Bilder eines Herrn Ernst Kirchner gezeigt, ein erklärter Lieblingsmaler von Ernst Albert, der daraufhin bemerkte, dies wäre doch ein schöner Ausflug, den er der besten Eva Pelagia schenken könnte, als Ausgleich für seine lange Abwesenheit. Ob er wohl mitkommen könne, fragte Archibald. Das werde man dann sehen, war die Antwort. Im Bahnhof scharrten die Züge mit den Hufen. Heimwärts nun! KB Nummer Zwo folgte sogleich!

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Es ist ein Krug zerbrochen und wie Archibald zum Feierbiest wird

Dienstag, 4. Mai 2010 10:37

krug1Der Musentempel war ein altes und wuchtiges Haus im Herzen der Stadt. Oben saßen die Aufrechtgeher, welche die alte Stadt regierten und unten in einem kirchenähnlichen Kellergewölbe waren die Bretter aneinander genagelt, auf denen die zweibeinigen Gaukler ihrer Arbeit nachgingen. Die zwei Gefährten betraten einen klitzekleinen Raum. Zwei Spiegel, zwei Stühle, zwei Tische. Einige fremdartige Kleidungstücke hingen an der Wand. „Hier findet die Verwandlung statt. Warte! Bis gleich.“ Und weg war Ernst Albert. Archibald blickte das erste Mal in seinem Leben in einen Spiegel. Seltsam sich selbst zu sehen. Ein kleine Aufrechtgeherin betrat den Raum der angekündigten Verwandlung, erblickte den Bären, stieß ein spitzen Schrei der Freude aus und der Bär hatte für den Rest des Abends eine neue Patentante. Und er sah die Verwandlung. Vor seinen Augen wurde aus der Frau ein Mann, ein kleiner Mann in einem verbeulten Anzug, der einige Jahre auf den Schulterpolstern hatte, ein Bart wurde über die Lippe geklebt und alle weibliche Zierat von Aug und Wange entfernt. Der Keller füllte sich. Nach und nach trudelten die Mimen ein. Verwandlungen noch und nöcher. Alte Kleider, Hüte, bemalte Wangen, Fett in den Haaren und ein Zweibeiner ohne Haare auf dem Schädel klebte sich eine riesige blutige Beule auf denselben. Er sah aus, als hätte ein Grizzly versucht ihm die letzten drei Haare aus der Stirn zu streichen. Und Ernst Albert trug ein edles Tuch am Laib, wie es sein Hausbär selten an ihm gesehen hatte. Ein gestrenger Herr war er geworden. Unaufhörlich wurde geredet. Unverständliches, Silben, Rufe, fremde Worte, seltsame Witze, die Archibald nicht verstand. Hibbeligkeit, ein bißchen Hysterie und freudige Erwartung erfüllten die Gänge hinter den Brettern. Archibald wußte nicht recht, ob er als eher ruhebedürftiger Solitär ein solches Gebrumme und Gesumme jeden Tag aushalten würde. Draußen wurde geklingelt, einmal, zweimal, dreimal. Gespannte Ruhe. Es ging los.

krug2Und davon wurde erzählt: Ein Krug ward zerbrochen. Wer hatte ihn zerbrochen? Eine wütende Frau klagt an. Nicht nur der Krug sei zerbrochen, sondern auch die Ehre ihres bis zum gestrigen Tage reinen Töchterlein. Ein Rüpel ward in deren Kammer entdeckt, tobend und krugzertrümmernd. Der mit der Bärenbeule auf dem Schädel ist ein Richter und soll die Sach entscheiden, die Frau mit dem Bart schreibt auf, was alles gesprochen und Ernst Albert, als strenger Herr von auswärts, schaut zu und lenkt das Geschehen. Es wird gestritten und gehadert und gelogen, daß sich die Balken biegen. Archibald sitzt nicht unter den zuschauenden Aufrechtgehern. Aber hinter den Brettern, auf dem Tisch, vor dem Spiegel hört er mit. Ein kleiner Lautsprecher hängt über seinem Haupt. Er hörte eine Sprache, wie er sie noch nie gehört hatte. „Wenn Ihr die Instruktion, Herr Richter Adam / nicht des Prozesses einzuleiten wißt.“ „Da muß submiss ich um Verzeihung bitten!“ „Hier standen rings, im Grunde, Leibtrabanten / Mit Hellebarden dicht gedrängt und Spießen.“ „Und schicke freudig Euch, von wo die Ohren / Mir Kundschaft brachten, meine Augen nach.“ „Geh, Mutter, mag es werden, wie es will!“ „Schweig Du mir dort, rat ich, das Donnerwetter / Schlägt über Dich ein, unberufene Schwätzerin.“ „Sehr sonderbar, bei Gott.“ Archibald verstand anfangs kein Wort. Doch er gab sich den fremden Versen, dem ständigen Voranschreiten der altehrwürdigen Worte hin und so entpackte sich der Kern der Geschichte langsam vor seinem inneren Auge. Der Richter selbst war der Ganove, die Maid mißbrauchend, überrascht vom Rüpel, den Krug zertrümmernd und auf der Flucht seinen Klumpfuß unübersehbar in den Februarschnee drückend. Das bezeugte am Ende eine verrückte Frau mit fettigen Haaren und fast entblößtem Hinterteil. Das Spiel endete. Ratlos. Jede der Figuren auf den Brettern hatte gelogen, sein klein bißchen Welt verteidigt und sie gleichzeitig verloren. „Das ist ja richtig harte Arbeit, was Ernst Albert und die anderen da abliefern.“, dachte Archibald. Die Zuschauenden klatschten, lange und rhythmisch.

krug3Und dann wurde gefeiert. Und Archibald durfte dabei sein. Ernst Albert hatte ihn seinen Mitstreitern vorgestellt und ihm wurde ein herzlicher Empfang bereitet. Und das bekam Archibald mit: Es war offensichtlich das letzte Mal gewesen, daß man die Geschichte vom zerbrochenen Krug erzählt hatte. Und so ist es  alter Brauch während der letzten Erzählung Schabernack zu treiben und seine Mitspieler mit kleinen, mehr oder weniger gemeinen Überraschungen zu irritieren und zum Lachen zu bringen. Dies war wohl zu aller Zufriedenheit geschehen – zum Beispiel mit dem fast entblößten Hinterteil – und die Stimmung war prächtig. Unzählige Tabakstäbe wurden verbrannt, entspannende Getränke wurden gereicht und flugs verzehrt. Geschichten und Anekdötchen flogen umher. Damals, ach, damals, wie schön. Die Köpfe wurden geschüttelt, man begann zu tanzen. Die Mimen mochten einander und feierten das Auseinadergehen, wenn auch mit etwas Wehmut. Archibald schwirrte der Kopf. Die Konturen verschwammen in Rauch und Gelächter. Doch das gefiel ihm. Heute nacht war er ein Feierbiest. Als der Abend voran geschritten war, hörte Archibald Altvertrautes. Robert Zimmermann sang und Ernst Albert dozierte dazu. Wie zu Hause in der guten alten Höhle. Ja, es war höchste Zeit heimzukehren. Eva Pelagia und der geheime Fieberthermometerhalter warteten. Mach es gut, Heckerland!

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Runter vom Ausguck und rauf auf das Zauberpferd

Sonntag, 2. Mai 2010 12:24

letztertag1„Was war Dein erhellenstes Erlebnis im Heckerland?“ Ernst Albert berichtete, wie er vor Tagen an der Kasse einer Nahrungsmittelkaufbude gestanden hatte. Er hatte Bananen und Äpfel erwoben. Vor ihm in der Schlange an der Bezahlstelle eine Frau, älter, Kleidung und Haartracht aber die eines Mädchens. Normalfall in Zeiten kollektiver Regression und Textilcodex in Green City. Die Frau verlangte nach einer Tasche aus ungebleichtem Stoff, ökologisch korrekt und gewissensstabilisierend. Es entspann sich folgender Dialog zwischen dem jungen Mann an der Bezahlstelle und der Kundin. Und – dies sei hier geschworen – jedes Wort ist wahr und wurde so gesprochen.

Kundin: „Wie isch da des Mindesthaltbarkeitsdatum?“

Kassierer: „Von der Milch oder den Äpfeln?“

„Nei! Von dem Einkaufsbeutel! Wie isch der so vernäht? Wie lang hält der?“

„Das kommt drauf an, was sie damit transportieren oder wie oft sie ihn benutzen.“

„Und wieso hätt der kein Mindesthaltbarkeitsdatum druffgschribbe?“

„Soweit ich weiß, gibt es das einfach nicht.“

„Sähet Sie, für Lebensmittel braucht mer des nit, die sind glei verzehrt. Aber bei so onnem Beutel tät des schon Sinn mache. Wie lang hält etzt der? Wisset Sie des?“

„Entschuldigung, aber ich kann ihnen beim besten Willen nicht sagen, wie lange ihr Einkaufsbeutel hält.“

„Sie, etz höret Sie mal her! Solang ich der Beutel nit erworbe hann, isch des immer noch ihren Einkaufsbeutel. Und da solltet Sie wisse, wie lang der hält.“

Tja, wer für alles eine Erklärung braucht, wird nichts erfahren. Für Archibald war es höchste Zeit vom Aussichtspunkt herunter zu klettern. Erkenntnisse waren gewonnen, exemplarisch und ausreichend erhellend. Aber, hatte seine Anoperationsnarbe eigentlich ein Mindesthaltbarkeitsdatum?

letztertag2Es hatte begonnen zu regnen. Einige alte Sonnenliegen standen im Trockenen und harrten auf ihren Einsatz. Archibald bestieg sie und wartete mit ihnen auf die Sonne. Gestern noch hatte sie dermaßen heftig vom Himmel gebrannt, daß man meinen konnte, Herr Lenz hätte Frau Else Sommer mit der Führung seiner Geschäfte beauftragt. Heute jedoch sah es aus, als würde Genosse Iwan Heribert Wintersen noch mal nach dem Rechten schauen. Archibald, meteorologisch nicht wirklich geschult, aber mit sicherem Instinkt und feiner Nase ausgestattet, hatte das Gefühl, daß diese Wetterumschwünge alle etwas zu abrupt seien. Das sagte auch die Anoperationsnarbe. Was Archibald nicht wissen konnte, daß es einige Aufrechtgeher gibt, die felsenfest behaupten, die Tatsache, daß die Umschwünge immer abrupter werden und frühere Sanftheit vermissen ließen, hänge damit zusammen, daß es den meisten Zweibeiner wichtiger ist ihre mit fossilen Säften betriebenen Blechmilben ständig in Bewegung zu halten und Kapstachelbeeren aus Kolumbien zu verzehren, als ihre zwei Beine zu nutzen und zu kauen, was vor der Haustüre gedeiht. Andere behaupten, das sei völliger Blödsinn und Hysterie der wahre Grund solcher Thesen. Da ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen, aber soviel riecht Archibalds Nase: Die Aufrechtgeher gehen nicht wirklich pfleglich mit der Welt um, die ihnen nicht gehört.

letztertag3„Komm, steig auf das Zauberpferd und wir besuchen einen Ort, an dem die Gegenwart in die Vergangenheit blickt, um die Zukunft zu verstehen. Ein Ort, an dem es Zweibeiner gibt, die die sind, die sie sind und gleichzeitig jemand ganz anderes. Ein Ort, an dem man Worte hört, die vor langer, langer Zeit aufgeschrieben wurden, die aber, wenn man sie pfleglich und respektvoll behandelt, zeitgemäßer und klarer klingen, als das gehetzte Geraune und maßlose Marktgeschrei, welches einem tagtäglich die Ohren und Hirnfurchen füllt. Und außerdem der Ort, an dem ich seit Ewigkeiten meine Brötchen und manchmal auch den Belag darauf verdiene. Auf, auf, Kleiner Bär! Thalia ruft!“ Und sie ritten in die untergehende Sonne. Ernst Albert zeigte Archibald einen Musentempel. Das erste Mal.

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Archibald ist müde, hört von der Sprache des Schauens und macht weiter

Freitag, 30. April 2010 16:31

testahausWatauineiwa nannten die Yaghan-Indianer in Feuerland ihren wichtigsten Gott. Sie stellten ihn sich vor als einen alten Mann im Himmel, der sich nie verändert und der nichts mehr fürchtet und verabscheut als Veränderungen. Archibald Mahler, Bär vom seit Ewigkeiten nicht mehr gesehenen Brandplatz, ging es heute ähnlich. Die Nachwirkungen des Rothaus-Symposiums vom Vortag, ein Höhlenwechsel und ein Temperatursturz von zweistelliger Größenordnung rüttelten an seiner legendären Bärenruhe. Die Seele und die Anoperationsnarbe forderten ein Innehalten. Gewiß, wieder blickte er hinab auf die alte Stadt und wieder war es grün, üppig, fast schon maßlos. Er fragte sich, ob die Stadt so reich sei, weil sie so grün ist, oder ob die Stadt so grün sei, weil sie so reich ist. Doch letztlich war ihm das gleichgültig. Er war müde und erschöpft, erschöpft von all der Bewegung, all den neuen Eindrücken der letzten Wochen.

Bruce Chatwin hatte in einem seiner Reisebücher über die Yaghan-Indianer berichtet. Sie lebten einst am Ende der Welt, in Feuerland und auf den Falklandinseln, bis die weißen Zweibeiner vorbeigesegelt kamen, ihnen erst ihr Land, ihre Sitten und ihren Stolz stahlen, um sie dann zu massakrieren. Restlos alle, denn die Ureinwohner hatten sich geweigert ihren alten Göttern abzuschwören und hatten folgerichtig einigen der Bibelbrüder, die ihnen die neue Lehre in den Kopf prügeln wollten, selbigen vom Hals getrennt. Was von den Feuerlandindianern blieb, war das Kompedium eines jungen Weltenfahrers, der sich die Mühe gemacht hatte, die alte Sprache der Yaghan zu sammeln und zu dokumentieren. Ernst Albert, der ebenfalls auf der Dachterrasse saß, legt das Buch zur Seite und sprach zu seinem etwas mißmutigen Bären: „Was für eine Sprache! Weijna! Das bedeutet nicht nur ‚reisen’, nein, sondern auch: ‚locker oder leicht zu biegen sein wie ein gebrochener Knochen oder wie eine Messerklinge’, oder ‚herumwandern oder herumirren wie ein heimatloses oder verirrtes Kind’, oder aber ‚locker angebunden sein wie das Auge in seiner Höhle oder ein Knochen in seiner Gelenkpfanne’, oder auch ’schwingen, sich bewegen, existieren oder sein’. Toll! Keine Sprache des Besserwissens, sondern eine Sprache des Schauens.“

Eine Sprache des Schauens! Das mochte Archibald, seines Zeichens seit Aschermittwoch fleißiger Weltschauer. Sein Blick fiel auf die Reste eines alten Baumes. Ein riesiger Stamm ragte gute fünfzehn Meter in die verregnete Luft, astlos, nadellos. Es war einer jener Mammutbäume, die die Indianer an den Küsten des Pazifiks als lebende Wesen und gütige Götter verehren. Wie war er in die alte Stadt gekommen? Was war ihm nach seiner Ankunft widerfahren? Hatte er sich geweigert, zu schwingen und sich zu bewegen, als ein Sturm über ihn hinwegraste? War er zu alt und zu groß geworden, um sich auf fremde Weisung hin zu beugen und zu ducken? War er ein weiteres Opfer des manchmal unangebrachten Stolzes? Etwas Gewaltiges muß ihn gefällt haben. „Übrigens: Yaghan-Indianer wurden sie von den weißen Aufrechtgehern getauft. Sie selbst nannten sich Yamana, was soviel heißt wie ‚leben, atmen, glücklich sein, von einer Krankheit genesen oder gesund sein’. Ala!“ Ernst Albert hatte sich, seit sie im Süden weilten, zu einem kleinen Schlaumeier entwickelt. „Muß wohl an der Luft hier liegen!“, dachte Archibald, kratzte sich am Hintern und dachte noch ein wenig über die Geschichte des alten Baumes nach. Und darüber daß jedes Innehalten auch der erste Schritt einer neuen Wanderung ist. Und da sah er: Neben den Riesenstumpf hatte man einen kleinen jungen Baum gepflanzt. Es geht weiter!

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Abschiede unter dem vollen Mond

Donnerstag, 29. April 2010 0:41

abschied1Und als die letzte Note gesungen und verklungen war, schlug Archibald die Augen auf, fand sich in einer Wiese sitzend, schnaufte einmal kräftig durch und die Welt hatte ihn wieder. Die Löwenzahnsamen flogen durch die Luft und kündeten vom Bären und wie sein Riechorgan alte psychedelische Lieder aus der Luft gesaugt hatte. Floraldownload. Ernst Albert schulterte die empfindlichste Nase des Universums und man machte sich auf den Heimweg. Die Zeit im Süden neigt sich dem Ende zu und morgen gilt es noch mal eine andere Höhle zu beziehen. Die Besitzerin der Neuen Höhle kehrt zurück und da möchte man nicht stören. Gesprochen wurde kaum auf der Wanderung in die alte Stadt. Abschied hat gern mal schwere Füße und die Gedanken loten in Twainschen Tiefen.

abschied2Archibald hatte gehadert mit der Arbeitsauffassung des Herrn Lenz in den letzten Wochen. Aber nun, da er Abschiedsblicke über das Flüßchen schweifen ließ und sein Herz gleichzeitig schwer und leicht schlug – er freute sich auf das Wiedersehen mit Eva Pelagia und den geheimen Fieberthermometerhalter – fiel ihm ein ehrliches Kompliment nicht schwer, was die fortschreitende Arbeit an der Begrünung der sichtbaren Welt betraf. „Gute Arbeit, Herr Lenz! Da hat sich doch was getan! Ein Vergleich sei gestattet. Und danke auch für die pelzwärmenden Strahlen! Und daß man den kalten Wind abgedreht hat!“ Herr Lenz vernahm dies alles nicht, denn er war gerade damit beschäftigt, die Kastanien zum Blühen zu bewegen und Hände voller nasenkitzelnder Blütenpollen in die Luft zu werfen. Hatschi! “Gesundheit.” Von drinnen rief man nach Archibald.

abschied3Wladimir Anatol Karamasow und Yogi „Yellowstone“ Parkinson baten zum Abschiedsgetränk. Über das gefangene Volk der Ursae minores auf den Schrank sprach man nicht. Yogi konnte sich eh nicht mehr daran erinnern und das sensible Herz des mächtigen Wladimir brauchte Schonung. Die Stimmung war eine gelassene. Kein Austausch von Adressen, keine Versicherung eines Gegenbesuches und sinnlose Beteuerungen, man werde gewiß den Kontakt weiter pflegen. Da ist der Bär zum einen Solitär, zum anderen Realist und die freundlichen Lügen und Sentimentalitäten der Aufrechtgeher sind ihm fremd. Das Bier des schwarzen Waldes mundete und Archibald bettete sich zur letzten Nacht. Ein letztes Mal streckte er die Faust grüßend Richtung Schrank. „Genossen! Ihr habt nichts zu verlieren außer Eure Ketten! Venceremos!“ Vor dem Fenstern rauschte die Dreisam ein Gute-Nacht-Lied. Wo würde sein Bärenhaupt morgen ruhen? “Heute ruht hier keiner!” Der alte Recke aus Kamschatka bei Wyoming namens Wladimir Anatol Karamasow sprach ein Machtwort und zeigte in Richtung Fenster. Ein voller Mond beleuchtete die Nacht. Drei Bären hatten dann doch noch einiges zu besprechen. Und sie huldigten der Badischen Staatsbrauerei.

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Der zweifellos psychedelische Mister Archibald

Mittwoch, 28. April 2010 1:52

Bären haben eine feine Nase. Bären haben eine sehr feine Nase. Und wenn Herr Lenz mit Verspätung alles auf einmal blühen und explodieren läßt, kann dies bei sensiblen Solitären durchaus zu einer gewissen Verwirrung führen. Am Wegesrand gab es für Archibald einiges zu riechen. Und wo man riecht, da hört man schöne Lieder.

rausch1Erst mal dieses: „Stell Dir vor Du sitzt in einem Boot, welches einen Fluß hinabtreibt, rechts und links Mandarinenbäume, der Himmel marmeladenfarben. Dann ruft jemand nach Dir und Du antwortest recht leise. Es war das Mädchen, aus dessen Augen Spektralfarben schossen. Luzie schwebt im Diamantenhimmel. Plastikblumen, gelb oder grün, türmen sich über Deinem Haupt, schau Du noch mal nach dem Mädchen mit der Sonne auf der Iris, aber leider ist sie verreist. Luzie schwebt im Diamantenhimmel. Geh ihr hinterher bis zur Brücke, welche den Teich überspannt. Dort sitzen Alte Zweibeiner in Schaukelstühlen, essen Marshmallows und grinsen vor sich hin, weil Du zwischen den Blumen umherwandelst, die bis zur Decke wachsen. Luzie schwebt im Diamantenhimmel.“

rausch2Dann jenes: „Ich bin er, so wie Du er bist, und Du bist ich, und wir sind es alle zusammen. Schau, wie sie rennen wie Schweine, auf die man mit Gewehren zielt, schau, wie sie fliegen, und ich muß heulen. Ich sitze auf einer Frühstückscerealie und warte auf den Bus. Ein Hemd mit Botschaft trage ich, wieder Tote in Afghanistan. Kerl, Du bist ein Drecksack und Dein Kinn hängt Dir bis zum Knie. Ich bin der Eiermann, alle sind Eiermänner, aber ich bin das Walroß. Goo Goo Goo Ju, her mit dem Job. Lieber Herr Polizeichef, kleines süßes Ordnungshüterchen, der Du hinten in der Reihe stehst. Schau mal, wie alle in der Gegend rumfliegen, genau wie Luzie im diamantenen Himmel, schau, wie sie rumrudern. Ist das nicht zum Heulen? Gelber Pudding tropft aus dem Auge eines toten Hundes!“

rausch3Aber dies ist auch nicht schlecht: „Ich denke, keiner sitzt in meinem Baum. Obwohl ich denke, oben oder unten, man muß sich entscheiden. Weißt Du, auch wenn Du das nicht verstehst, mach mit, paßt schon, und schlechter kann es nicht werden. Ich nehme Dich mit, weil ich auf dem Weg bin, in Richtung Erdbeerfelder. Nichts erscheint mir wirklich und nichts, an dem ich mich festhalten kann. Trotzdem: Erdbeerfelder für immer und nie mehr in der Zweiten Liga! Leben mit geschlossenen Augen ist einfach, Du siehst nur Mißverständnisse. Jemanden darzustellen ist hart, aber es funktioniert. Aber mir ist das eigentlich auch egal. Komm mit aufs Erdbeerfeld.“

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Vor der Stadt ist in der Stadt

Mittwoch, 28. April 2010 0:28

opfingen1Man hatte dazu gelernt. Keine größeren Ausflüge ohne Proviant. In seinem Rücken eine alte Kirche, auf dessen Turm ein Storchennest thronte, welches genutzt und bebrütet wurde, blickte Archibald hinunter in eine fruchtbare Ebene. In dunstiger Ferne grüßten die Stadt und ihr Kirchturm. Leider auch einiges an Beton und Scheußlichkeit. Ernst Albert dachte derweil an Eva Pelagia, mit der er hier vor Jahresfrist ihren Geburtstag gefeiert hatte und vermißte sie. Er sprach das nicht aus, aber Bären sind feinsinnige Geschöpfe und merken so etwas. So ließ Archibald einen solidarischen Seufzer in die schwül-warme Luft aufsteigen. Dann widmete er sich wieder seiner Begeisterung für dieses unfaßbar fruchtbare Stück Land. Alles schien den Aufrechtgehern hier in den Schoß zu fallen beziehungsweise zu wachsen. Vor Urzeiten und gänzlich von Flugplänen unbehelligt, hatten Vulkane hier rumgespuckt und späteren Generationen einen sensationellen Lößboden hinterlassen. Nirgendwo sonst im Land gedeiht eine solche Vielfalt an Gewächs und Getier. Zwischen den Orchideen wohnen die Eidechsen. Und die Sonne stellt dazu alljährlich landesweite Rekorde auf. Und weil die Bewohner der alten Stadt gescheit und geschäftstüchtig sind, haben sie vor über dreißig Jahren die kleinen Bauern- und Winzerorte einfach eingemeindet. Man gönnt sich ja sonst nichts. Aber das wußte Archibald nicht und es interessierte ihn auch nicht. Er ließ dieses Stück Erde in sich hineinfließen. „Du schaust genau so versonnen auf dieses Land wie Eva Pelagia im letzten Jahr, mein Freund.“

opfingen2Bären haben, besonders dann wenn es wärmer wird, einen gewissen Hang zur generellen Entschleunigung. Sie nennen so etwas dann ‚Welt schauen’ oder ‚Floralmeditation’. Und das hier war ein perfekter Ort, um nur zu schauen, wie wächst, was die Aufrechtgeher tröstet und berauscht. Betrachtender Winzer, das wäre doch ein Beruf für einen Faulbären. Gern wird der Traum geträumt bevor er platzt und Ernst Albert hatte schon immer den Hang zum Spielverderber. Elender Realist! Sie standen vor einer Tafel. Ernst Albert liest vor: „Ein Jahr im Weinberg. Statistisch gesehen muß jeder Rebstock vom Winzer innerhalb eines Jahres ca. 17-mal besucht werden. Das Weinjahr beginnt im Januar und Februar mit dem Rebschnitt. Altes Holz wird entfernt und die Zahl der “Fruchtruten” wird bestimmt. Der Rebschnitt ist nach wie vor noch echte Handarbeit, für die die Winzer oft viele Wochen benötigen. Im März und April, wenn die Reben anfangen zu “bluten” – so nennt man den Saftaustritt an den Schnittwunden, werden die Fruchtruten nach unten gebogen und gebunden. Bei diesen Bindearbeiten stehen die Winzer oft im wahrsten Sinne des Wortes “im Regen” – und das auch noch gerne, denn die feuchte Witterung verhindert, daß die Ruten beim Biegen brechen. Ab April wird der Boden mit verschiedenen Arbeitsgeräten wie Grubber, Fräse und Kreiselegge, mechanisch aufgelockert. Dies dient dazu, das natürliche Bodenleben anzuregen. Anschließend werden Begrünungspflanzen eingesät. Damit die Reben ausreichend mit Nährstoffen versogt werden, wird nun auch gedüngt. Ende April/Anfang Mai kommt es zum Austrieb. Nun beginnt die Phase des Pflanzenschutzes gegen Pilzkrankheiten, wie den echten und falschen Mehltau. Je nach Witterung müssen die Rebschutzspritzungen im Laufe des Sommers insgesamt 4 bis 7 mal durchgeführt werden. Während der Blüte, Ende Juni, sollten die Reben möglichst ihre Ruhe haben. Die Zeit der Selbstbefruchtung beim Wein sollte von kurzer Dauer sein, um eine Verrieselung oder das Verblühen ohne Befruchtung, zu vermeiden. Läuft die Befruchtung schlecht, kann die Erntemenge stark eingeschränkt sein. Um ein Abbrechen der Reben zu verhindern, werden die am Bogen wachsenden Reben in dieser Zeit “aufgebunden oder eingekürzt”. Während der ganzen Wachstumsperiode zwischen Juni und August sind die Weingärtner mit Laubarbeiten beschäftigt. Zum Teil werden die Triebe festgebunden, um sie vor Windbruch zu schützen. Auch müssen nun durch den Laubschnitt Blätter entfernt werden, um die Durchlüftung der Rebanlage zu fördern. Wenn Mitte bis Ende August die Reifephase eintritt, beginnen die Weingärtner mit der sogenannten “grünen Lese”. Durch das Entfernen einiger schon erbsengroßen Beeren, erhalten die verbleibenden Beeren mehr Kraft. Die entlasteten Rebstöcke erreichen dadurch einen bessern Qualitätsbereich. Im September ist es dann endlich soweit: Die Früchte der Arbeit können geerntet – besser gelesen – werden. Die Lese kann sich bis zu drei Wochen hinziehen. Vor allem, wenn sie von Hand erfolgt. Zwar werden die Trauben immer häufig mit dem Vollernter gelesen, aber nur in Handarbeit kann der Winzer faule oder unreife Trauben konsequent auslesen. Nach dieser Strapaze haben sich Winzer und Weinberg eine Pause verdient. Doch der Winzer muß noch mal “ran”. Der Weinbergsboden, der durch die Lesearbeiten stark zertreten ist wird ein letztes Mal umgepflügt. Dann deckt auch meist schon bald der Schnee den Weinberg zu.“ Potzrembel! Von wegen in den Schoß wachsen! In Vino labora verita est!

opfingen3Hier saß nun Archibald Mahler, Winzer in spe. Die schwarze Folie unter seinem Hintern fühlte sich etwas seltsam an. Aber er spürte, wie etwas sehr Kostbares unter ihm heranwuchs. Weiße Stangen, die diese Böden und die Wärme ganz besonders mögen. Weiße Stangen, die es nur wenige Wochen im Jahr gibt und auf die die Zweibeiner im Lenze ganz wild sind. Weiße Stangen, denen man wahre Wunderdinge nachsagt. Das Wort hat der Herr Fremdenführer: „Spargel gilt auch als Heilpflanze. Im Vordergrund steht die blutreinigende und harntreibende Wirkung. Außerdem wird dem Spargel eine Hilfe bei folgenden Leiden zugeschrieben: Gallensteine, Nierensteine, Herzklopfen, Husten mit Auswurf, Rheuma, Gicht, Milz- und Leberleiden, Gelbsucht, Hämorrhoiden, Ruhr, Magenschwäche, Milchschorf, Lungenleiden und generelle Unpäßlichkeiten. Er gilt als aphrodisierend, potenzsteigernd, empfängnisverhütend und soll die Monatsblutung fördern. Hörst Du zu, Archibald? Archibald?“ Weg, der Bär war verschwunden. Einfach verschwunden. In Duft aufgelöst. Zwischen den Blüten und Blumen brummte, summte und kicherte es.

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Reich ist die Stadt

Dienstag, 27. April 2010 9:36

reich1Links und rechts der großen Kirche mit dem filigranen Turme, jeden Tag, außer Sonntag: Markt. Rechts ist zu vernachlässigen. Händler und Chichikram. Zehntausend Sorten eingelegter Oliven, Strohschuhe, bemalter Tonkrempel, Tulpen aus Amsterdam. Links jedoch, Bauern, welche tatsächlich ihre eigene Ware verkaufen. Kartoffeln (zwanzig Sorten), Rote Beete, Spargel, Weißkohl, Rotkohl, Lauchzwiebeln, rote Zwiebeln, weiße Zwiebeln, Schalotten, Knoblauch, Sellerie, Kohlrabi, Karotten, Radieschen, weiße Rettiche, rote Rettiche, Blumenkohl, Rosenkohl, Brokkoli, Wirsing, Zucchini, Blattsalat (zwanzig Sorten), Feldsalat, Rhabarber, Mangold, Gurken, Tomaten, Brombeeren, rote Johannisbeeren, schwarze Johannisbeeren, Stachelbeeren, Himbeeren, Zwetschgen, Süßkirschen, Sauerkirschen, rote Trauben, weiße Trauben, Äpfel (zwanzig Sorten), Birnen (zwanzig Sorten), Pilze (zwanzig Sorten), grüne Bohnen, Zuckererbsen, Petersilie, Schnittlauch, Kerbel, Dill, Brunnenkresse, Salbei, Kümmel, Senf, Liebstöckel, Majoran, Rosmarin, Lavendel, Rosen, Margeriten, Veilchen, Forellen, Speck (zwanzig Sorten), gekochter Schinken (zwanzig Sorten), roher Schinken (zwanzig Sorten), Würste (hundert Sorten), Käse (zweihundert Sorten), Hühner, Enten, Gänse, Hasen, Walnüsse, Haselnüsse, Kirschwasser, Zibärtle, Himbeergeist, Kirschwasser., Riesling, Müller-Thurgau, Spätburgunder, Gutedel, Gewürztraminer, Weißburgunder, Bratwürste, Bratwürste, Bratwürste (zehn Stände), Kartoffeln. Sie essen gerne und gut hier unten. Und jeden Freitag um elf Uhr morgens schlägt die Knöpfleglocke im Turm der schönen Kirche und ruft die Frauen auf, das Kochwasser für die beste Teigware der Welt aufzusetzen. Manche tun es noch heute, die anderen gehen neue Joggingschuhe kaufen. Die Stadt ist reich.

reich2Selbstverständlich steht das älteste urkundlich erwähnte Gasthaus des ganzen Landes hier in der Stadt der Gerne- und Gutesser und selbstverständlich heißt es “Zum Bären”. Ehre, wem Ehre gebührt. Über gelegentliche Aasfressereien sei hinweg gesehen. Und da gibt es: Gambas, gebraten und in Gelee mit kleinem Kräutersalat. Marinierte grüne Spargelspitzen mit Spargelmousse und Parmaschinken. Rahmsuppe von Frühlingslauch mit Schnittlauchecken. Gebratenes Doradenfilet mit Tomaten und Oliven auf sautiertem Gemüse mit Butterkartoffeln. Lammrücken mit Paprikakruste, Bohnengemüse und Bärlauch-Gnocchi. Ziegenfrischkäse, Bergkäse und Roter aus dem Münstertal. Variation von Rhabarber- Mousse. ½ Bund Spargel mit Kräuter-Vinaigrette und Salat von Kirschtomaten und Salatherzen. Marinierte grüne Spargelspitzen mit Spargelmousse und gebratenem Kalbsbries. Spargelteller mit gemischtem Schinken, Sauce Hollandaise und neuen Kartoffeln. ½ Bund Spargel mit Kräutercrêpes, Sauce Hollandaise und gebratenem Lachsforellenfilet. 1 Bund frischer Stangenspargel mit Sauce Hollandaise oder zerlassener Butter, Kratzete oder neuen Kartoffeln. Freiburger Festtagssuppe mit Klößchen, Flädle und Maultäschchen. Weißweinrisotto mit Champignon-Ricotta-Ragout und grünem Spargel. Gebratene Forelle “Müllerin” mit Mandelbutter, Dampfkartoffeln und Blattsalaten. Lachsschnitte mit Bärlauchschaum, Frühlingsgemüse und Dampfkartoffeln. Gebratenes Zanderfilet mit Safransauce, Frühlingsgemüse und Tagliatelle. Kalbsschnitzel „Wiener Art“ mit Bratkartoffeln und Blattsalaten vom Markt. Rinderrücken in Gewürzöl eingelegt mit jungem Gemüse und Butterkartoffeln. Medaillons vom Rind, Kalb und Schwein mit verschiedenen Saucen dazu hausgemachte Spätzle und Salate vom Markt. Nicht erwähnt werden muß: Billig ist es nicht, denn die Stadt ist reich.

reich3Wem der Magen jetzt nicht knurrt! „Das ist ja ein richtiges Schlaraffenland hier.“, bemerkte Archibald, der gerade dabei war zum Gourmetbär zu mutieren. Kurz entschlossen sprang er in die Dreisam und zog sich einen Fisch an Land. Filetiert, pochiert, gewürzt und fertig eingedost. Ernst Albert verspeiste einen Apfel. Der Gast mit dem schmalen Geldbeutel geht auch mal einen Kompromiß ein. Gestärkt folgten sie dem Lauf des Flüßchens. Hinaus aus der reichen Stadt. Vor der Stadt ist in der Stadt. Früher nannte man das Gemeindereform. Herr Lenz blieb den zwei Wanderern weiterhin gnädig gestimmt. Er möge sich darauf aber nichts einbilden.

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Die Toten in der Stadt oder Die Geburt des Geschichtenerzählers Ernst Albert

Montag, 26. April 2010 18:37

Der Alte Friedhof. Ein verwunschener Ort. Im Schatten altehrwürdiger Bäume, zwischen ungemäht wuchernden Wiesen und Sträuchern: Grabmäler, Skulpturen, Kreuze. Hundert, zwei-, dreihundert Jahre alt und mehr. Inschriften, manche sorgfältig restauriert, manche zerfressen und nicht zu entziffern, dem Verfall preisgegeben. Geschichten überall. Es raunt und es wispert. Die Toten erzählen die schönsten Geschichten. Man muß ihnen nur zuhören. Archibald tut das.

tod2Es kommt alles ans Licht. Früher. Meist später. Oft auch zu spät. Aber es kommt ans Licht. Der Totenkopf erzählt: Es lebten einst ein alter Schmiedemeister und seine junge Frau. Glücklich war die Ehe nicht, der Mann war alt und müde vom Leben, die Frau war jung und voller Verlangen und Ungeduld. So begann sie ein Techtelmechtel mit dem Gesellen. Da beider Blut mehr und mehr in Wallung geriet, beschlossen sie den alten Meister aus dem Weg zu räumen. Mit Hilfe des Geliebten rammte die junge Frau dem schlafenden Gatten einen Nagel in den Schädel. Das noch kräftig wuchernde Haupthaar des Schmieds verdeckte die Wunde, niemand schöpfte Verdacht, selbst als die Frau und der Geselle bald darauf heirateten. Jahre später mußte das Grab geöffnet und geräumt worden. Die Cholera zog durch die Lande und man brauchte Platz. Der Spaten des Totengräbers gab Laut. Metall schlug gegen Metall. Der Nagel im exhumierten Schädel war deutlich zu sehen. Der Frevel war ans Licht gekommen. Die Schuldigen wurden zu Tode verurteilt.

tod1Rechtzeitig kehrt machen kann Heil bringen. Manchen gelingt es. Die meisten schaffen es nicht. Die schlafende Jungfer erzählt: Ein junger Mann und eine junge Frau fanden aneinander Gefallen. Der junge Mann war nur zu Besuch in der alten Stadt gewesen, aber Amors Pfeil saß tief ihm im Gewebe und bald holte er seinen Koffer und stellte diesen in der Kammer der jungen Frau ab. Die junge Frau aber war krank. Sie brauchte berauschende Blätter, viele, starke, täglich. Der junge Mann wollte sie davon befreien und verbrannte die berauschenden Blätter. Die Frau war dankbar und gesundete. Der junge Mann aber reiste gerne. Er hatte seinen zwei besten Freunden versprochen den Sommer mit ihnen in einem fernen Wüstenland zu verbringen. Er reiste ab. Die Frau erkrankte wieder, schrieb Briefe an vereinbarte Orte, bat um schnelle Rückkehr. Die Briefe blieben liegen in den Postämtern entlang der Reiseroute des jungen Mannes. Avignon. Malaga. Algeciras. Tanger. Marrakesch. Im fernen Wüstenland erkrankte der junge Mann schwer im Gedärm. Jetzt vermißte er die junge Frau. Abgemagert und schwach schleppte er sich tausende von Kilometern zurück. Zu spät. Tot war die Liebe. Die junge Frau setzte ihn und seinen Koffer vor die Tür. Wohin nun? Der junge Mann betrat den Alten Friedhof. Hier wollte er weinen. Man sah ihn von nun an öfters. Hin und wieder legte er frische Blumen auf das Grab eines jung gestorbenen Adelsfräulein. Er verweilte dort ein wenig und las die Briefe der jungen Frau, die aus den fernen Postämtern zurückgekommen waren. Nach einem Jahr. Dann wandelte er zwischen den Gräbern und rezitierte. Hehre Worte.

tod3Vieles ist zu ersetzen. Manches wird nicht einmal vermißt. Ersatz ist ein böses Wort. Weil es weh tut. Aber die Geschichten davon sind schön. Auch und gerade, wenn sie schmerzen. Ernst Albert, der vor wenigen Minuten noch den eloquenten Fremdenführer gegeben hatte, war mit Betreten des Alten Friedhofs recht wortkarg geworden. Archibald hatte nichts dagegen. Es gab viel zu sehen. Er entdeckte ein kopfloses Grabmal. Ein Fragment. Er bestieg es. Er spielte rum. Er schlüpfte in die Rolle eines Toten. Ernst Albert lachte. Er rezitierte. „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten? Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? Ihr drängt euch zu! Nun gut, so mögt ihr walten, wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt; mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.“ Archibald verstand nicht ganz. Woher sollte er auch wissen, daß Ernst Albert hier an diesem Ort, kopflos und herzschwer – sein Koffer stand vor einer geliebten Tür , er war zu spät gekommen und auch ansonsten recht dumm gewesen – den Beschluß gefaßt hatte, all seine Studien abzubrechen und zum Musentempel zu gehen, um Geschichten zu erzählen, Löcher der Erinnerung zu stopfen, Fragmenten Leben einzuhauchen und hehre Worte des Herrn Geheimrat JWvG zu sprechen. „Ich hab Hunger. Komm, Bär! Aufbruch! Genug sentimentalisiert!“

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Das Wasser in der Stadt

Sonntag, 25. April 2010 18:41

wasser1Das Rauschen des Flüßchen Dreisam draußen vor der Neuen Höhle, Archibald war es inzwischen zu einer Art hochgeschätzter Muzak geworden. Er entstieg dem Zauberkasten, der ihn den Berg hinab in die Stadt hatte gleiten lassen und da war es wieder, das Rauschen des Flüßchen. Dreisam und überall. Ein Strahlen flitzte über das Bärengesicht. Dies wiederum erfreute Ernst Albert und so gab er den Fremdenführer. Er erzählte dem Bären, daß die hier ansässigen Zweibeiner zwar gerne mal mißtrauisch und unfreundlich seien, aber auch recht gescheit. So hätten sie schon vor bald siebenhundert Jahren Wasser vom Flüßchen Dreisam abgezapft, in einem eigens angelegten Bach durch die Straßen der Stadt geleitet und sich so das Wasser, welches der schwarze Wald ihnen schenkte, zu Nutzen gemacht. Mühlen, Schmieden, Schlachtereien, Färbereien und Gerbereien siedelten sich entlang dieses Baches an. „Und da, wo Du jetzt sitzt, hängten noch vor siebzig Jahren die Fischer ihre Fischkästen mit lebenden Forellen, Weißfischen, Hechten und Aalen in den dahin eilenden Bach. Mitten in der Stadt!“ Archibald war begeistert. Frischfisch quasi Downtown? „Früher, Archibald, früher! Heute kauft man hier Ansichtskarten, esoterische Kinderbücher und Matratzen, gefüllt mit japanischem Reisstroh. Die Zeiten haben es eilig und müssen sich wohl ändern! Schade!“ Man zog weiter. Früher Sonnenschein und ermutigendes Rauschen! Weiterhin wohlgelaunt!

wasser2Wenig später saß Archibald auf einer Waschmaschine. (Präzise bleiben! Kleine Erinnerung des Setzers!) OK! Er saß auf einem der ungezählten Brunnen, welche jedem noch so kleinem Platz der Stadt ein plätscherndes Zentrum geben. Und wo heute der Besucher entweder gerührt die Digitalkamera zückt oder die überhitzten Handgelenke ins kühle Naß tunkt, schöpften früher die Frauen der Stadt das Trink- und Brauchwasser für ihre Familien oder die Bauern aus der Ebene vor der Stadt, die tagsüber ihr Gemüse den Städtern zum Kauf angeboten hatten, ließen Ochs und Eselein ein letztes Mal Wasser schlotzen vor der Heimkehr. Der Wasserhahn war noch nicht erfunden gewesen. Archibald mochte das sehr. Rechts und links von ihm prasselte es in den Brunnen. Der Fremdenführer E. A. hob wieder an zu sprechen. „Das Haus in unserem Rücken ist ein Kloster. Auch wenn Dir hier die Ohren sausen, ich spreche hier von Adelhausen. Entschuldigung! Kleiner Witz! In diesem Kloster ist zu sehen ein außergewöhnliches Kruzifix. Der Kopf des gekreuzigten Heilands ist extrem nach unten geneigt und er senkt sich weiter. Die Sage geht, sinke der Kopf vollends auf die Brust, gehe die Welt unter.“ Unter diesen Umständen bat Archibald um Aufbruch. „Jetzt, wo Herr Lenz gerade beginnt seinen Auftrag ernst zu nehmen: Hallo! Untergang, nein danke!“ Ernst Albert beruhigte den Bären. „Mein kleiner Freund! Keine Angst! Die Herren Mönche sägten einst am Nacken des Erlösers herum. So gab er der Gravitation nach!“ „Warum?“ „Angst essen Seele auf und machen Kasse voll!“

wasser3Und dann rauschten da allenthalben noch die Bächle. Eine Art Alleinstellungsmerkmal der Stadt, lange bevor man ihr den Dummnamen ‘Green City’ verordnete. Schon im Mittelalter hatten die gescheiten Aufrechtgeher vor Ort ihre Straßen mit kleinen Rinnen versehen und sie mittels eines Stollens mit Wasser aus dem Flüßchen Dreisam geflutet. In Sachen Brandschutz war das damals eine richtige Weltidee. Während ringsherum im Mittelalter die Städte Feuer fingen: hier wurde überlebt. Abgebrannt sind die Anderen. Das ist heute noch so. Klein, aber historisch nicht unbedeutend, nun dieses Bächle neben dem Archibald Mahler als Hobbylimnologe Platz genommen hatte. Er saß auf einer Treppe, die einst, im vierten Jahr der Regierung des Alten aus Bergedorf,  in einen Vergnügungskeller für Langhaarige geführt hatte. Damals tanzte dort Archibalds Fremdenführer so manche Nacht, ausdauernd, trunken, den indischen Heilkräutern zugewandt, einem Weibe in die Stadt gefolgt. Ein roter Punkt im Leben des Herrn Ernst Albert. Vorbeigerauscht. Vergangenheit. Vorbeigerauschte Vergangenheit. Wie das Wasser. Vorbeigerauscht? Pustekuchen revisited! Da hinten in den Meeren, wo alles Wasser landet, steigt es wieder auf, verwolkt sich, kehrt zurück und regnet Dir auf das Haupt. Manchmal! „Komm, Archibald! Laß uns auf den Alten Friedhof gehen!“

Thema: Im Heckerland, Küchenschypsologie | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth