Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Sieben
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Querung. Verstopfung. Erschütterung.
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Sie mußten die Landstraße von Altenstadt nach Florstadt queren, die Forst und Pilgerweg zerschnitt. Wie schnell man doch das unangenehme Gesumse und Gebrause der Blechkisten vergessen kann. Wenige beschleunigte Schritte später umfing die zwei Amateurpilger wieder die tiefe Stille des Waldes. Jedoch kam man, so schien es zumindest Archibald Mahler, nicht so recht voran. Ursache dafür diesmal nicht der Zustand der Wege, sondern der – sagen wir – küchenpsychologisch angehauchte Spieltrieb des Ehrenwerten Ernst Albert. Der ergiebige Regen der letzten Tage und Wochen hatte etliche neue Rinnsale, Bäche und Tümpel geschaffen, einige davon jedoch gestaut, gebremst, verstopft von Blattwerk, Ästen, Steinen oder aufgeschwemmten Erdreich. Ein paar feste Tritte oder mit einem dicken Stock dazwischen gefahren und das Wasser floß, suchte sich neue Wege oder spendete einem träge dahin fließenden Rinnsal neue Kraft, neuen Schwung. Ein altes Spiel, welches Ernst Albert als Bub mit Vater und Bruder auf zahlreichen Bergwanderungen gerne spielte. Staudämme bauen und sie dann – Einziger Zweck der Mühe? – wieder zerstören und sehen, wie das freigesetzte Wasser glucksend und brausend die Verstopfung beendet. Erst Einsperren und daraufhin den Befreier geben. Nicht des Bären Ding. Er mahnte und trieb an.
Es häuften sich nun Hinweistafeln, oft schon bemoost, brüchig, die Beschriftung kaum noch zu lesen, die auf das Ziel der Wanderung hinwiesen. Plötzlich und unerwartet linkerhand eine Abzweigung, im Sommer angesichts dichten Blattwerks wäre man vielleicht daran vorbeigelaufen und siehe: die Wallfahrtskirche Maria Sternbach. Es heißt dieses Gotteshaus befände sich auf einer Wüstung. Das Dorf Sternbach, dessen Mitte einst die Kirche war, sei „wüst gefallen“! Nie gehört den Begriff, jedoch sehr beeindruckend und also notiert.
Man stand vor verschlossener Pforte, umrundete das der Jungfrau Maria geweihte und zur Wallfahrtskirche beförderte Kleinod, fand sich vor einem Außenaltar nebst Außenkanzel wieder, beides während der jährlichen Wallfahrten intensiv genutzt. Und da dem Bären noch die heute morgen geträumt und / oder gehörte Erzählung des Georg Büchner durch den Kopp schwirrte, nahm er flugs auf der Kanzel Platz und es schoß ihm nochmal zwischen die aufmerksamen Ohren das Folgende:
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Oberlin war im Zimmer; Lenz kam heiter auf ihn zu und sagte ihm, er möge wohl einmal predigen. – »Sind Sie Theologe?«- »Ja!« – »Gut, nächsten Sonntag.«
Lenz ging vergnügt auf sein Zimmer. Er dachte auf einen Text zum Predigen und verfiel in Sinnen, und seine Nächte wurden ruhig. Der Sonntagmorgen kam, es war Tauwetter eingefallen. Vorüberstreifende Wolken, Blau dazwischen. Die Kirche lag neben am Berg hinauf, auf einem Vorsprung; der Kirchhof drum herum. Lenz stand oben, wie die Glocke läutete und die Kirchengänger, die Weiber und Mädchen in ihrer ernsten schwarzen Tracht, das weiße gefaltete Schnupftuch auf dem Gesangbuch und den Rosmarinzweig, von den verschiedenen Seiten die schmalen Pfade zwischen den Felsen herauf- und herabkamen. Ein Sonnenblick lag manchmal über dem Tal, die laue Luft regte sich langsam, die Landschaft schwamm im Duft, fernes Geläute – es war, als löste sich alles in eine harmonische Welle auf.
Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles Moos unter den schwarzen Kreuzen; ein verspäteter Rosenstrauch lehnte an der Kirchhofmauer, verspätete Blumen dazu unter dem Moos hervor; manchmal Sonne, dann wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Menschenstimmen begegneten sich im reinen hellen Klang; ein Eindruck als schaue man in reines, durchsichtiges Bergwasser. Der Gesang verhallte, Lenz sprach. Er war schüchtern; unter den Tönen hatte sein Starrkrampf sich ganz gelegt, sein ganzer Schmerz wachte jetzt auf und legte sich in sein Herz. Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach einfach mit den Leuten; sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müd’ geweinte Augen Schlaf und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte. Er war fester geworden, wie er schloß – da fingen die Stimmen wieder an:
Laß in mir die heilgen Schmerzen,
Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;
Leiden sei all mein Gewinst,
Leiden sei mein Gottesdienst.
Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz, erschütterte ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen, unnennbaren Schmerz davon. Jetzt ein anderes Sein: göttliche, zuckende Lippen bückten sich über ihm nieder und sogen sich an seine Lippen; er ging auf sein einsames Zimmer. Er war allein, allein!
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Nein, nein, nicht allein, nicht leiden, hadern, selbstkasteien. Der Bär riß sich los von der Erzählung, erschüttert, voller Fragen. Man hob ihn vorsichtig von der Kanzel, sprach Beruhigendes. „Lassen Sie uns aufbrechen, Meister Albert. In drei Stunden läuten die Glocken zur Vesper, ich habe Bärenhunger, gehen wir und an den Staudämmen vorbei. Und blicken Sie noch oben!“ Das antwortete der Bär.
Am Himmel zogen sich schwere Wolken zusammen, kräftige Böen griffen beherzt in die Kronen der kahlen Bäume und vereinzelt schnitten Lichtfinger durch die grauen Gebilde über ihren Köpfen. Archibald Mahler, Pilger in Anfechtung, betete der Träger des Wanderbeutels möge die rechte Orientierung besitzen.