A. Mahler macht sich selbstständig / Versuch 3
Hat man die Chance gleich vier Männern eine Frage stellen zu dürfen, könnte es eine Antwort geben. Das denkt Archibald Mahler, der zweimal schon den Aufbruch wagte und dennoch keinen Schritt nach vorne tat, was heißt gen Norden, was ihn aber nicht wirklich entmutigte. (OK! Stand heute und jetzt am Abend eben!) Jedoch das Bedenkenswerte, also das Bemerkenswerte am Bedenkenswertem, ist daß diese vier Männer – Abbild sowieso und nicht mehr – einer sind nur. Der Herr Buchhalter Pessoa – das ist der kleine sitzende schwarze Mann vorne – lebte ein ganzes Leben in Lissabon in Portugal und blieb dort, tat sein Tagwerk und reiste nie. Ein ganzes langes Leben lang pendelte er täglich gewissenhaft zwischen Einraumwohnung und Kontor hin und her. Abends dann, an der heimischen Schreibmaschine, spaltete er sich auf oder ab und dann saßen die Herren Alvaro do Campos (der Grüne?), Alberto Caito (in der Mitte und anthrazit!) und Ricardo Reis (der Blaue rechts dann wohl!) vor, hinter und neben Fernando Pessoa und durchreisten im Auftrag ihres Schöpfers alle inneren und äußeren Welten des Erdballs. Und dies kann der Portugiese: – zumindest tat er es Jahrhunderte lang – die Meere besegeln und etliche Welten entdecken. Aber irgendwann kam die Zeit, da segelte er müde und geschlagen in seine kleines Land zurück, kehrte indigniert Resteuropa seinen Rücken zu, blickte hinaus auf Tejo und Atlantik und reiste nur noch im Kopf durch die Länder seiner Sehnsucht, während herrlich traurige Lieder wie heimatlose Möwen ihn umschwirrten.
Letztes Jahr hatte der ehrenwerte Herr Ernst Albert im Musentempel Mittelhessen ein Theaterstück bearbeitet, welches eine alte Geschichte aus Lissabon erzählte und der Bär hört heute noch diese traurig – lebensfrohen Lieder, die damals Tag und Nacht die Höhle in der Kleinen Häßlichen Stadt durchwehten. So schön. Sind Bären nicht auch an Land gesetzte Seefahrer ohne eigenes Schiff? Ist Archibald Mahler nicht ein Portugiese, eigentlich? So denkt er gerade mal und bleibt hocken, weil die Heizung so wohltuend blubbert und für das Wochenende oben an der Küste fürchterliche Orkane, Sturmfluten und umfallende Bäume angesagt sind. Ich bleibe hier, sagt er sich, und lasse wie der Meister Pessoa Abspaltungen meiner Eigenheit durch die Welt tappern. Wie könnten die dann heißen? Otto Pasulke? Karl – Heinz Hoppenstedt? Jeremias Heinrich?
„Ich höre?“ Kiel hatte angerufen. „Bär! Willst Du nur von Fischbrötchen quatschen oder sie wirklich kauen? Bär! Willst Du Dich in Aufrechtgeherbadezimmern lauwarm föhnen oder willst Du in Strande die feuchte Wucht eines Sturmes auf Deinem Pelz spüren? Bär! Weißt Du noch wie die Möwen kreischten? In Laboe! Und Deine Angst damals?“ Archibald Mahler legt auf. Er will nachdenken. Er hat immer noch keine ordentliches Reisebudget zur Verfügung. Möglichkeiten? Im überdachten Mittelhessen bleiben? Das beheizte Mittelleid kultivieren? Mittelmäßig verharren oder wilder Aufbruch, einen Taxifahrer als Geisel nehmen, als blinder Passagier über regennasse Autobahnen hoch und weiter? Was schrieb Stendhal? „Die Welt ist gleichsam ein Buch, von dem man nur die erste Seite gelesen hat, wenn man nichts als seine Heimat kennt?“ Und was schrieb Ilse Aichinger? „Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen. Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts – oder auch Einzelreisender. (…) Dann gibt es Lichtbildervorträge. ‘Hier siehst Du mich! ‘ – aber wen sieht man, zwischen Eisbergen oder an Dattelpalmen gelehnt? Wieder nur sich selbst!“ Der Beginn der Reise verzögert sich ein drittes Mal.