Appenzeller Vergewisserungen / Das Idyll
„Hömma Mahler, dat iss Zungenmuskelkater erste Kategorie, wat ich mir da zugezogen habe beim Versuchen dat Einheimischenlied nachzukauen: Sagedzi vieh labätzieh wiegodsauch ihrema? Wat is dat dann? Iss dat eine Spezialform vonne finno – ugurische Dialekte ausse uralische Sprachfamilie? Sind dat Bergfinnen oder Hügelungaren, die in ihre Teppichmäntel inne frühen Siebziger dat Werk geschrammelt haben?“
„Nein, das was wir eben hörten ist eine Unterart – gewiß sehr speziell – des Alemannischen. Also der deutschen Hochsprache verwandt! Zum Nachsprechen: Ja, grüezi wohl, Frau Stirnima, sagged sie, wi labbed sie, wie sind sie au’ so dra? Ja, grüezi wohl, Frau Stirnima, sagged sie, wie labbed sie, wie gaht’s däm ihrem Ma?“
„Hochsprache laß ich aber auch nur durchgehen tun, weil wir hier oben auffem Hügel sitzen, woll. (Im folgenden längeres und genüßliches Schweigen nach üblicher Hasenmopperei.) Aber ist dat nich schön? Da unten dat.“
„Fast zu schön!“
„Wie meinen? Dat geht doch gar nicht: zu schön!“
„Ich meine schon, Herr Budnikowski. Ein Geschenk solcher Schönheit kann den Aufrechtgeher dazu verführen zu denken, er hätte es verdient hier zu leben. Aber es ist nur ein Zufall, ein glücklicher, der ihn hier zur Welt brachte.“
„Dat iss wohl so. In Oberhausen iss häßlicher, dafür bisse von mehr Freundlichkeit umgeben.“
„Wenn Sie meinen! Aber los jetzt, Faulhase!“
„Ein Minütchen noch. Solche Blicke hasse selten als Flachlandhase! (Wieder ein Schweigen. Noch länger. Noch genüßlicher.) Wat iss dat für ein neues Lied, wat da vom Gewässer da unten in meine Löffels reinkriechen tut?“
„Ich glaube das hat der Ernst Albert bestellt.“
(Und während das Lied – im übrigen gleichen Alters wie der Liedbesteller– die Hänge des Appenzell hinaufkriecht, erzählt dieser die Geschichte von vier jungen Männern, die vor vielen, vielen, vielen Jahren auf einer Bank mit ähnlichen Aussichten saßen, ihre Sinne von indischen Heilkräutern geschärft, vorne auf der Kante der exponierten Bank sitzend, unruhig, im Aufbruch begriffen. Nach langem stummen oder verplaudertem Betrachten stellte einer der vier fest, daß dieses Idyll einen praktisch in die Welt hinaus zwinge, denn wo soviel Schönheit einem zu Füßen liegt, wo bliebe da die Arbeit, die zu tun sei, um ein Leben mit Sinn zu füllen. Wer der vier diese Worte sprach, man weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich erinnert jeder der vier sich selbst als Sprecher. So ist das mit der Erinnerung nun mal. Und nachdem die vier aufgestanden waren – nicht ohne ein Abschiedsbier zu trinken – zerstreuten sie sich in alle Windrichtungen. Einer unterrichtete fortan in Afrika, einer trampte nach Portugal, buck Brot und kaufte sich einen Esel, der Dritte pflückte Tomaten hinter Matala und traf dort ein Weib aus Hannover und der Letzte reiste nach Amerika, einen neuen Beruf zu lernen. Heute weilen zwei der Herren wieder am See, die anderen beiden schauen gelegentlich vorbei und hören dann vielleicht dieses Lied. Vielleicht!)