Wolziger Seelegien / Sieben / Schmerz

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Nicht vom Diffusen sprechen, nicht von den Tunneln und Schächten, die das Fundament durchziehen, auf dem dein Haus stehen mag, nicht vom Pathos falscher Reue, nicht von Scham und Selbstekel, nicht vom wolkenverhangenen Blick in einen Spiegel, der sich auch nennen mag „Der Andere“, nicht von den alten Bildern, die immer wieder scheppernd von den Wänden fallen, nicht von Schuld und Schulden, nicht von überzogenen Krediten, nicht vom Wolkenkratzer Erwartung, nicht vom Canyon Realität, nicht vom klagenden Blick auf die Quittungen, die auf deinem Nachttisch liegen, nicht von den gnadenlos kichernden Nachtmaren, nicht sprechen von einer dieser Varianten, die wir gerne betiteln als  einen Schmerz. Mit Antonio Tabucchi dies:

Plop, plopp, plopp, ploppp:

„Der Schmerz, der ihn weckte, lief über das linke Bein, von der Leiste bis zum Knie, aber der Ursprung saß woanders, das wußte er inzwischen allzu gut. Mit dem Daumen glitt er vom Steißbein er nach oben, und als er zwischen dem dritten und dem vierten Wirbel angelangt war, verspürte er im ganzen Körper eine Art Stromschlag. Als ob sich an dieser Stelle ein Radiosender befände, der seine Wellen überallhin sendete, vom Hals bis in die Zehenspitze. Er versuchte sich im Bett umzudrehen. (…) Er betrachtete seine Zehen und dachte an den armen jungen Mann aus Prag, der eines Tages völlig verwirrt aufgewacht war, weil er nicht auf dem Rücken, sondern auf einem Panzer lag, zur Decke seines kleinen Zimmers aufblickte – die er sich aus irgendeinem Grund himmelblau vorstellte -, die behaarten Beinchen vergeblich zu bewegen versuchte und sich fragte, was er tun solle. (…)“

Ernst Albert hatte gestern Abend versucht sich mit dieser Erzählung müde zu lesen, was ihm nicht wirklich gelang, weil er selten zuvor sein altes Rückenleiden so ‚schön’ beschrieben gelesen hatte. Die Hilflosigkeit und die blinde Wut und das  Staunen darüber, was ein Leib so alles vermag. Heute nun war er an einer der ungezählten, kleinen und wunderbaren Badestellen an einem der vielen kleinen Seen in der Mark ins warme Wasser gestiegen. Er trieb auf dem Rücken dahin, ihm war leicht, er sang vor sich hin und ihm war – oh bittere Euphorie – als röche er die Ahnung einer anderen Richtung, die so ein vermaledeites Leben einschlagen könne, sein innerer Jubel stieg wie Seifenblasen hinauf in den Mittagshimmel. Plop, plopp, plopp, ploppp! Si, si, Signore Tabucchi! An Land, gekrümmt die Badehose wechseln wollend, das Handtuch um die Hüfte geschlungen, auf einem Bein balancierend wie ein trunkener Storch, um seine Scham zu verbergen vor zwei 80 -  jährigen Damen, richtete er sich wieder auf, als der altbekannte Schmerz ihn durchschoß, so heftig wie schon lange nicht mehr, dieser miese Schmerz sich wie ein Messer zwischen seine abgescheuerten Wirbel bohrte und der Atem still stand, erklärt Ernst Albert.

Einige hundert Meter weiter musste man das Rad und sein Leben schieben. Eine Bank. Albert und Mahler verharren. Bär entspannt. Aufrechtgeher leicht panisch. Sitzversuch. Gehen. Sitzversuch. Gehen. Hilflos warten. Zu sich zu kommen. Versuch. Tabletten. Bier. Ein nun sehr lauter Fluch, feucht im Augenwinkel. Archibald Mahler, nebenberuflich ein erfahrener Tröster, greift zum Herrn Brecht. Man mag ihn eigentlich nicht, den eitlen Sack, der – immer noch – Leitstern für etliche eitle Monomanixe im Zirkus Musentempel. Dennoch: manchmal hört man den Alten gern:

Alles wandelt sich

Alles wandelt sich. Neu beginnen / Kannst du mit dem letzten Atemzug. / Aber was geschehen, ist geschehen. Und das Wasser / Das du in den Wein gossest, kannst du  / Nicht mehr herausschütten.

Was geschehen, ist geschehen. Das Wasser / Das du in den Wein gossest, kannst du / Nicht mehr herausschütten, aber / Alles wandelt sich. Neu beginnen / Kannst du mit dem letzten Atemzug.

Das Bier ward leer. Der Rücken antwortete wieder. Etwa acht Kilometer noch von dieser Bank aus zurück nach Hause – die Hälfte davon ist Kopfsteinpflaster. Halleluja! Man überlebte im ersten Gang. Jetzt liegt der Malade im Bett und die Medizin beginnt zu wirken.

„Herr Albert, ich lasse Sie jetzt alleine!“

„Wohin?“

„Ich gehe nach Kummersdorf!“

„Nicht übertreiben! Wird schon wieder!“

„Nein, keine Symbolik. Die Schleuse ist mein Ziel!“

„Ach, dort hinter Philadelphia!“

„Ja. Ich will den Schleusenwärter besuchen. Vielleicht lerne ich was.“

„Wie?“

„Also, Niveau senken und wieder heben und senken. Den ganzen Tag!“

„Das ist gut!“

„Ruhen Sie sich aus. Und das unten noch für Sie. Bis bald!“

Kummersdorfer Klugscheißerei von Archibald für Ernst

Und die Frage bleibt / warum das sich bücken / geschmeidig / der Schwerkraft folgt, / während der stechende / Schmerz beim Versuch, / sich wieder aufzurichten, / hohnlacht. / Dieser miese Hund.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Freitag, 8. August 2014 18:36
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