Man läuft nicht alleine, wenn man schaut wie der Fluß vorbeifließt (Auerbachs Keller revisited)

hundert_tage2

„Herr Mahler, kann ich Sie etwas fragen? Auch hier und jetzt?“

„Können Sie? Dann tun Sie es!“

„Kurz und bündig: Haben Sie eine Vorstellung davon, wie wir beide in diese Lage gekommen, gerutscht oder gefallen sind? Haben Sie eine konkrete Erinnerung daran, zu welchem Zeitpunkt die Änderung unserer Lage in dieser Radikalität eintrat? Oder ist ihnen der Ablauf der letzten Stunden noch so detailliert vor dem inneren Auge, daß Sie mir mitteilen können oder zumindest den ein oder anderen Anhaltspunkt zur Verfügung stellen würden, wann und wie und wo und warum – das sei nicht vergessen – die Änderung unserer Lage eintrat und in der jetzigen Manifestation ihr Ende fand? Ist Schieflage ein angemessener Ausdruck dafür? Was meinen Sie, Herr Archibald Mahler und Bär vom Brandplatz?“

„Dies nun nennen Sie nun kurz und bündig?“

„Gewissermaßen ja, war es doch Ihr leuchtendes Vorbild, welches mich davon überzeugte all meine Äußerungen unter dem von Ihnen oftmals propagierten Banner der Präzision zu formulieren, präzise in Form, Inhalt und Ziel der getätigten Aussage, in hörbarer Abgrenzung vom allseitigen Faul- und Dummsprech der Kaste der Aufrechtgeher. Kritisieren Sie mich nun bitte nicht, wenn meine Wenigkeit tätig Ihrem Ansatz huldigt!“

„Sie übertreiben und ich habe Hirnweh!“

„Nun dennoch, die Antwort!“

„Schwerkraft!“

„Sie meinen lediglich das Phänomen der Gravitation war es, das unsere Körper aus der Vertikalen in die Horizontale beförderte?“

„Schwerkraft und Braukunst, wenn ich präzise sein will!“

„Ein mir bis jetzt unbekanntes Phänomen!“

„Das komm davon, wenn ein bis gestern überzeugter Karottennager sich plötzlich über Frankfurter Würstchen hermacht!“

„Köstlich waren Sie, köstlich, vor allem wenn man sie vor dem Genuß eintaucht in diese schäumende gelbe Flüssigkeit. Fatal köstlich.“

„Allerdings: fatal. Kalte Würstchen in warmes Bier getunkt. Mein Magen protestiert!“

„Ach, man gibt plötzlich das Sensibelchen. Ich zitiere in diesem Zusammenhang lediglich und das vollkommen unauthorisiert: in Honig eingelegtes Aas, Lachs an Heidelbeersoße, überbackenes Bisamrattenschnitzel und mit Thunfischstückchen gefüllter Schafsdarm aus einer Zweibeinermülltonne. Alles ganz oben notiert auf den Bärenspeisekarten dieser Welt und jetzt wehleidiges Rumgemopper, wenn unsereins nichtsahnend totes Tier in Bier stippt.“

„Mir ist schlecht!“

„Mir auch!“

(Eine lange Zeit  wird geschwiegen, sich sortiert, leises bis lauteres Stöhnen im Zweiertakt, Gedärme rumpeln, Gase entweichen, die Fenster werden geöffnet. Das Licht scheint den Anwesenden zu hell.)

„Herr Mahler?“

„Herr von Lippstadt-Budnikowski  auf Datteln?“

„Zu, bitte, zu!“

„Ja, das war man gestern!“

„Zu Datteln! Nicht auf Datteln!“

„Makrele auf Datteln! Das wäre es jetzt!“

„Sie sind überzwerch, Herr Bär!“

„Das macht der Kater im Bären!“

„Schön war sie trotzdem, unsere kleine Feierlichkeit zum hunderttägigen tätigem Weltguckjubiläum!“

„Wissen Sie, Freund Lütten Stan, ich sage immer: feiern Dich nicht andere, feiere Dich selber. Alte Solitärbärweisheit aus Kamschatka bei Wyoming.“

„Da sagen Sie was Wahres. Wird gespeichert!“

„Geht doch. Das war jetzt mal bündig und kurz.“

„Könnten Sie noch einmal dieses Lied singen vom gestrigen Abend?“

„Ach, ich weiß nicht!“

„Und wenn ich Sie ganz fest bitte?“

„Sie sagen es nicht weiter?“

„Hömma: großet Ehrenwort und keine Fingers gekreuzt hinner dem Hasenpöter! Kannse woll glauben, Du alten Brummbär!“

(Herr Mahler beginnt zu singen, bald stimmt Herr von Lippstadt – Budnikowski zu Datteln ein. Im Hintergrund beiläufig lebensfroh eine Flasche Licher Pilsner.)

„Uns ist ganz kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen! Uns ist ganz kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen! Uns ist ganz kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen! Uns ist ganz kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen!“

(Im Hintergrund leicht schwankend der Geheimrat mit erhobenem Zeigefinger. Sein alter Freund Mephistopheles steht neben ihm, grinst wie ein Koch, der gerade die Kelle in den Suppentopf geworfen hat, schwingt sich feixend auf die Bierflasche und reitet auf seinem Glasroß durch das geschlossene Fenster hinaus in die feuchte Frühlingsluft.)

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Freitag, 28. Mai 2010 15:37
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