Ein Abend in einer Stadt im Osten

weimar2_1„Und?“ Archibald schaute Ernst Albert erwartungsvoll an, als dieser wieder zu ihm stieß. „Ich tat, was ich konnte, kleiner Bär. Man wird sich entscheiden, die Tage, irgendwann! Warten ist die wahre Zeit. Jetzt habe ich Durst!“ Aufgespannte Schirme vor einer Gaststätte, unter denen sie als einzige draußen saßen. Am Horizont baute sich ein gewaltiges Tief zusammen. (Nach Rücksprache mit der Produktionsleitung: es soll wirklich „baute“ heißen. Gruß vom Setzer) Ernst Albert bemerkte leicht verbittert, daß er letztes Jahr im November, als er mit Eva Pelagia diese Stadt besucht hatte, den gleichen Wintermantel inklusive des dicken Schals getragen hatte. Archibald sagte dazu nichts. Er war es nicht gewesen, der die Existenz von Herrn Lenz abgeleugnet hatte. Das Schwarzbier erreichte die Durstigen. Archibald steckte seine Nase in den weißgelben Schaum und erreichte innert Sekunden die Nullkommafünfpromillegrenze. Das dunkle Zeugs schmeckte ihm. Na klar, ist ja auch das Lieblingsgetränk des Geheimrats gewesen. „Zum Frühstücke zwei Kannen des köstlichen und stärkenden Schwarzbieres, dann aufgebrochen.“, schrieb er schon in seiner „Italienischen Reise”. Von einer gegenüberliegenden Hauswand grüßte ein Zitat des Allgegenwärtigen. „Das wirkliche Leben verliert oft dergestalt seinen Glanz, daß man es manchmal mit dem Firnis der Fiktion wieder auffrischen muß.“ “Ja genau, mein Trinkerfürst! Mehr Dichtung, weniger Wahrheit!” Archibald fühlte sich bereit für ein ganzes Promill. Ernst Albert jedoch warnte. Außerdem hatte er – fellfrei, wie er ist – einen kalten Arsch und Hunger. Archibald zeigte sich einsichtig, da Ernst Albert zudem die Rechnung übernahm.

weimar2_2„Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zum Essen, bitte sehr – es macht ihn ein Geschwätz nicht satt, das schafft kein Essen her.“ So sangen sie einst hier. Nicht immer freiwillig. Geschenkt, denn diese runden Kugeln mußten die Götter auf die Erde gebracht haben. Archibald war fasziniert. Geruch, Geschmack, Konsistenz: ein Erlebnis. Er beschloß eine Petition an höchster Stelle einzureichen, daß in nächster Zeit neben den Lachsen auch Thüringer Klöße die Flüsse hinaufschwimmen mögen. Und man speiste, keinen fettfreien Chichikram, nein, man aß, nicht um seine Weltläufigkeit unter Beweis zu stellen, sondern man aß, um satt zu werden und also bestellte man Kost nach tradierter Art des Landes: Zwei jeweils dreihundert Gramm schwere Scheiben Rostbrätel, dazu Röstkartoffeln sowie Röstzwiebeln dick und heiß übers das in Bier gebratene Fleisch gehäuft. Zwei große und ein kleines Bier ergänzend dazu. Am Nebentisch vertilgte man Würzfleisch, übergoß dieses literweise mit Worcestersauce. Dann schob man Soljanka hinterher. In den Nebenraum wurde Schnitzel auf Schnitzel mit Mischgemüse und Salzkartoffeln getragen. Herrlich! Archibald grunzte vor Wonne, Ernst Albert schloß sich an. Sein Bruder hatte ihm am Tag seiner Abreise ein Buch über eben diese Art zu speisen geschenkt. Ein Buch auch über die Gespenster der Erinnerung, die auch aus den vollgeladenen Tellern in diesem Gasthause aufstiegen. Ein schönes Buch. Ernst Albert mochte solche Koinzidenzien. Nebenbei bemerkt: man zahlte für alles, was man verzehrt und vertrunken hatte, lächerliche dreizehn Taler. Archibald saß ermattet auf der Sitzbank. Der Kloß und der warme, freundliche Singsang der eingeborenen Zweibeiner hatten ihn wohltuend erschöpft. “Essen als Feier der Gemeinsamkeit, nicht als Zurschaustellung des kleinen bibbernden Wohlstandsego. Das muß ich mir merken.” Der Geist der Stadt im Osten, er beflügelte den Bären. “Meenste?” “Glor!” “Sischer?” “Awer säbforschdänsch!”

weimar2_3In der Nacht trommelte ein Regensturm gegen die Fenster des kleinen Hotels. Archibalds Schlaf war unruhig und von Alpträumen geplagt. Er träumte von den ehemaligen Lagern vor den Toren der Stadt, von dem dort hingerichteten Mann, der den Spitznamen „Teddy“ getragen hatte. Er träumte davon, wie er einen endlos langen Fluß entlang wanderte, auf der Suche nach der Quelle, auf der Suche nach seinem Ursprung, auf der Suche nach seiner Geschichte vor der Geschichte. Er stolperte und taumelte, er fror, überall roch es nach verschüttetem Schwarzbier, der Geheimrat bewarf ihn trunken mit Klößen und am Horizont lachten die Türme der Gier. „Archibald! Deine Mission! Die Suche!“ Stimmen riefen nach ihm. Er hatte doch einen Auftrag. Die „Angstmuzak“. Wieder stand er vor einem Kühlschrank. „Und weil der Mensch ein Mensch ist! Nieder mit dem vierten Schnitzel!“ Er öffnete die Tür. „Hey, Genosse Teddy. Da ist nur noch Wasser drin. Das Bier ist weg. War umsonst. Kaum zu glauben, nicht wahr? Komm her, die Gespenster hier wollen nichts Böses. Schlaf wieder ein. Don`t fear the reaper.“ Gitarren sangen Archibald in den Schlaf.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Donnerstag, 20. Mai 2010 14:11
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