Beitrags-Archiv für die Kategory 'Im Heckerland'

Zu Dornbirn besucht Archibald den Herrn Zimmermann und ist beeindruckt

Montag, 21. Juni 2010 15:44

dylan1Da war er schon stolz. In Begleitung dreier ehrenwerter Gesellschafter der alten Markgrafenbande aus der kleinen reichen eingebildeten Stadt ins benachbarte Vorarlberg zu reisen, um Herrn Robert Zimmermann zu erleben. Die Haare der Reisegruppe ergraut und das Auto – wie die Abdomen – etwas dicker geworden als anno dunnemals Mitte bis Ende der Siebziger. Die Stimmung jedoch die gleiche. Frühes Bier, indische Heilkräuter und dezent alberne und euphorische Vorfreude auf den Meister. Archibald fühlte sich ausgesprochen wohl. Man hatte ihn sehr freundlich begrüßt. Alle dummen und gescheiten Sprüche der Troika verstand er nicht, aber er spürte durchaus, wenn Aufrechtgeher guter Laune sind und es ehrlich miteinander meinen. Und die Lieder, die aus den Lautsprecher knarzten, sie waren ihm vertraut. „My woman got a face like a teddy bear / She’s tossin’ a baseball bat in the air / The meat is so tough you can’t cut it with a sword / I’m crashin’ my car, trunk first into the boards.” Keine Sorge: keine Unfälle. Die Betonpiste des Nachbarlandes, das soeben die Spanier besiegt hatte, wurde vignettenfrei befahren. No risk, no fun! Dornbirn erreicht. Unverschämte acht Grad plus vor Ort, Dauerregen und die umliegenden Berge im feuchtkalten Nebel. Na und? Nichts trübt die Laune auf dieser kleinen Zeitreise.

dylan2Eine Reise zurück in eine Zeit, welche beim Betreten der Halle fröhliche Urständ feiert. Kaum Einlaßkontrollen, Fotoapparate erlaubt, nur kein Blitzlicht bitte, die Bühne an der Längsseite der sehr überschaubaren Halle, größtmögliche Zuschauernähe, keine feste Bestuhlung, man kann sitzen oder stehen und bezahlt doch einen Preis. Einige “VIP’s” blicken mit häppchenverklebten Fingern von einem Balkon aus schräg runter auf die Bühne: Peching! Bierstände im Innenraum, viele Bierstände, keine Schlangen davor und drei Taler zwanzig für ein großes, gut gezapftes Getränk, unter den Rauchverbotschildern blitzten die ersten Feuerzeuge auf und bald ziehen süßliche Rauchschwaden durch die Halle. „Once upon the time!“ Lob, Gruß und Dank an die Veranstalter. Vorfreude wurde hier nicht durch kranken Kontrollwahn bombardiert. Pünktlich wie immer: “Columbia recording artist  B.D.” Und Archibald ist fasziniert. Ein kleiner dünner Bär, ein kleiner dünner, sehr gutgelaunter Tanzbär springt auf die Bühne. Neunmal steht er hinter seinem elektrischen Pianoforte, dreimal schultert er die Gitarre und viermal – und das ist der Moment, in dem Archibald sich in ihn verliebt – steht er im Zentrum der Bühne, nur das Mikrophon in der einen, eine Mundharmonika in der anderen Hand. Alle Kraft und alle Konzentration legt er in seine Stimme. Er knarzt, gurgelt, wütet. Er zerpflückt, zerlegt, streichelt die Worte. Fügt zusammen den Sinn. Alle Lieder, die Archibald schon öfters in Ernst Alberts Höhle gehört hat, sie beginnen zu wachsen, zu fliegen, zu glitzern und  zu tanzen. Sie tanzen über den Köpfen der begeisterten Menge, sie tanzen wie dieser mit der Mundharmonika ins Publikum winkende Mann in seinem hellgrauen Südstaatenanzug mit den obligatorischen Seitenstreifen an der Hose. Und hast Du nicht gesehen: er grinst, er lächelt! Flirtet er mit dem Publikum, welches seine Lieder auf Händen durch den Abend trägt? Vor ihm kniet gelegentlich der leitende Gitarrist und feuert den Tänzer an, treibt dessen Stimme an, zieht sich zurück, um die Stimme wieder in Empfang zu nehmen. Call und Recall auf höchster Ebene. Der Mann in Schwarz mit der wummernden Gitarre fördert und fordert den  Sing-  und Tanzbär! Und beim letzten Lied – Das spiele der Meister fast nie am Ende, ließ Ernst Albert, der alte Fachmann, verlautbaren! – da hatte Archibald feuchte Augen, falls ein Bär überhaupt weinen kann und nicht doch die indischen Heilkräuter die Bindehaut gereizt hatten. „May God bless and keep you always / May your wishes all come true / May you always do for others / And let others do for you.”

dylan3Auf der Rückfahrt wurde wenig gesprochen. Es war, da herrschte Einigkeit, eines der richtig guten und beseelten Konzerte des Meisters. Man war beglückt, bekifft, trunken. Nur der wackere Chauffeur nicht! (Danke an Arno für das Anhalten im rechten Moment!) Ein schöner Ausflug in Zukunft und Vergangenheit. Never ending tour! Zu Hause ein Absacker, noch mal singt der Meister, Archibald schlummerte ein und Ernst Albert notierte die Eindrücke des nun gestrigen Abends. Ihm war aufgefallen – Man notiere: Dylan zu interpretieren liegt ihm mehr als fremd: dennoch! – daß der Meister in die Mitte des Abends einen fast politischen Schwerpunkt gesetzt hatte. Ein wütender, teils zynischer, dann wieder gelassener Kommentar zu Finanzen, Banken, Ölpest und der ständig weiter wachsenden Schere zwischen Reich und Arm. Ein von Herrons Banjo voran getriebenes, entspannt stampfendes „High Water“. Hier kommt die Flut. Es folgt „Desolation Row“, unterlegt von einem Riff, das sich permanent im Kreise dreht, Rummelplatzmusik. Nichts ändert sich, Schemen und irreale Gestalten bevölkern den heruntergekommenen Planeten. Und dann – einer der absoluten Höhepunkte aller bisherigen zehn Konzertbesuche des Herrn Ernst Albert – Dylan ohne Instrument, alleine am Mikrophon und ein wütend ausgespucktes „Ballad of Hollis Brown.“ Sie nehmen den Armen nicht nur ihr letztes Hemd, sondern auch ihre Würde. Und wenn ihr Spaß dran habt, ihr vollgefressenen verwöhnten Lümmel, bringt ihr eine Hungerleiderin einfach um, kommt ungeschoren davon. „The Lonesome Death of Hattie Carroll”.  Jedes einzelne Wort spuckt er fast verächtlich aus. Nehmt die Lumpen aus Eueren Gesichtern! Eure Krokodilstränen interessieren die Verhungernden und Entwürdigten nicht. Schlußpunkt dieser kleinen Serie ein lautes und von dem großartigen Charlie Sexton wütend in die Saiten geknalltes „Honest With Me.“ Der Sänger kann seine tiefe Enttäuschung kaum verhehlen und er kämpft mit sich um ein Stück letzte Hoffnung. „Well, my parents they warned me not to waste my years / And I still got their advice oozing out of my ears / You don’t understand it, my feelings for you / Well, you’d be honest with me if only you knew.“ Später der sentimentale – und das darf sein – Abgesang:  “Workingman’s Blues # 2”. Die Gesellschaft ist eine andere geworden. Und als das alles kaum mehr zu toppen ist, mutiert er zu einer Art zynischen Frank Sinatra, stellt sich mit seiner Harp in die Mitte der Bühne und croont ein „Ballad Of A Thin Man“, daß sich draußen die Nebelwolken lichten und der Hausberg der Lokalen, der Karren, sichtbar wird. Und das war wirklich so. Ernst Albert hat es gesehen! Ein faszinierender Abend. Archibald erwachte aus seinem Schlummer. „Ernst Albert?“ „Ja?“ „Wann fahren wir wieder heim?“ „Weshalb?“ „Weil hier nur eine Zimmermannplatte ist. Ich muß mehr Zimmermannlieder hören!“ „Bald fahren wir wieder heim! Bald! Schlaf gut und: May your heart always be joyful / May your song always be sung / May you stay forever young / Forever young, forever young / May you stay forever young!” Danke Dornbirn! Danke Meister!

Thema: Im Heckerland, Robert Zimmermann | Kommentare (6) | Autor: Christian Lugerth

Die Geschichte vom Bären und dem Hasen und wie dann der Meister rief

Samstag, 19. Juni 2010 11:19

rast1

Rast am Waldesrand. Die Begegnung hatte Archibald tief beeindruckt. Sein Herz pochte. Es roch nach Redebedarf.

„Ernst Albert?“

„Ja?“

„Die Bären haben mir eine Geschichte erzählt!“

„So?“

„Soll ich sie mal erzählen?“

„Nur zu, Genosse!“

„Also: im Wald. Der Hirsch kommt zum Bären und fragt ihn, ob das stimmen würde, daß er, der Hirsch, auf seiner, des Bären Todesliste stünde. Der Bär bestätigte das. Der Hirsch rennt von dannen und ward nicht mehr gesehen. Aus dem Unterholz bricht ein Wildschwein. Es will wissen, ob es auf des Bären Todesliste stünde. Daß dem so sei, erwidert der Bär. Das Wildschwein ergreift die Flucht. Weg war es! Ein Lachs schaut aus dem Fluß. Ob sein Name wohl auch auf der legendären Todesliste verzeichnet wäre? Nicht nur seiner, bekommt er zu hören, auch die gesamte Verwandtschaft des Lachses sei fein säuberlich notiert. Da hoppelt der Hase vorbei. ‚Hömma Bär, is dat korrekt, dat ich auf Deine Todesliste stehen tu?’ ‚Das ist so richtig!’ ‚Kann ich mal wat fragen?’ ‚Schieß los!’ „Wäre dat eine größere Aktion, wennse mich von Deine Liste einfach streichen tust?’ ‚Das dürfte überhaupt kein Problem sein.’ Gesagt, getan. Tolle Geschichte, gelle!“

„Lustig! Und was lernt man daraus? Daß Hasen schlau sind?“

„Nein! Man muß nur sagen, was einen auf den Nägeln brennt. Reden hilft manchmal.“

„Schlaubär! Laß uns weiterziehen! Der Meister hat gerufen!“

„Wer?“

“Robert Zimmermann.”

“Nein?”

“Doch!”

“Darf ich mit?”

“Du musst!”

“Yippie!”

Thema: Im Heckerland, Küchenschypsologie, Robert Zimmermann | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Hinter Kaltbrunn und nahe Freudental kommt es zu einer Begegnung (reprise)

Freitag, 18. Juni 2010 9:12

begegnung2Nein, das hatte er nicht geträumt. Genau so war es geschehen. Zwei große und starke und echte Artgenossen vis a vis. Aug in Aug. Heißer Atem. Der eine leckte an Archibalds ehemals abben Bein. War das eine Geste der Emphatie? Eingesperrt zu sein hat ja auch Traumapotential, und nicht zu knapp. Aber immerhin können die zwei ihr Gehege verlassen und haben ein riesiges Stück Wald für sich ganz alleine. Oder wollten sie ihn verspeisen, ihn, einen stolzen Vertreter Ihrer Zunft? Archibald blieb gelassen und vertraute auf die Festigkeit des Zaunes. Vielleicht würden sie ja im schlimmsten aller Fälle erst mal Ernst Albert annagen. Ganz so hat er das natürlich nicht gedacht, aber wer weiß schon, wie man reagiert, wenn es hart auf hart kommt. Dann sind Ernst Albert und Archibald aufgestanden und einmal um das ganze große Waldgehege herumgelaufen und die zwei Bären folgten ihnen. Archibald war sehr stolz. Sie hatten verstanden, was er ihnen zugeflüstert hatte. “Ich will keine Angst haben! Nicht vor Euch! Kommt mit! Wir machen einen Spaziergang!” Und das haben sie tatsächlich getan.

Thema: Im Heckerland | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth

Wer keine Heimat mehr hat, hatte mal eine Heimat!

Donnerstag, 17. Juni 2010 22:21

bodanrueck1Noch in der Mitte der Siebzigerjahre des vorherigen Jahrhunderts hatte der Begriff „Heimat“ reichlich Patina angesetzt und leuchtete im wesentlichen in den Farben Rudolf Prack und Braun. Ernst Albert und Konsorten wollten sich damit nicht abfinden. Die kleine reiche eingebildete Stadt liegt an der Spitze einer dicht bewaldeten Landzunge. Im Norden der Halbinsel fällt das Ufer steil ab in den von Gletschern ausgewaschenen Überlinger See. Im Süden dümpelt der flache Untersee. Dazwischen: Wälder, Wiesen, Obstbäume, Sümpfe, ein paar kleine Ortschaften, Gehöfte, Dorfgasthäuser und in der Mitte der Landzunge ein verwunschener See. Dieses Stück Land galt es zu erobern. Linksherum! Achternbusch und Bierbichler trugen die Fahne voran. „Ich bleib hier solange, bis die merken, daß es mich gibt! Prost!“ Auch ohne Kniebundhosen und rote Wadenstrümpfe Flora und Fauna die Ehre bezeugen. Durch die Wälder laufen ohne Ziel und Gesinnung. Zurückeroberung des Dialektes. Der Berg ruft auch den Unrasierten! Und auf Bänken mit grandioser Aussicht kifft es sich einfach besser als in versifften Wohngemeinschaftszimmern. Archibald blickte auf den verwunschenen See. Nur ein einziger Steg führt in den göttlichen Mindelsee. Ganz allein, der Steg und er! Ernst Albert sagte nichts. War auch nicht nötig. Wer hier einmal gesessen ist, der versteht!

bodanrueck2„Unser Britisch Kolumbien“ nannte man die Gegend hier oben. Wenn sie auf der Blumeninsel schon die Tulpen zählten, lag hier noch Schnee. Irgendwann hatte einer die Idee hier Bisons zu züchten. Und die Tiere auch zu schlachten und in der kleinen Gaststube am Rande des Geheges zu verwursten und  zu verzehren. Für Ernst Albert und die Markgrafenbande war es ein festes Ritual, sich den Gestank der durchfeierten Samstagnächte am Sonntagnachmittag hier oben aus den Klamotten zu laufen. Nachdem beim Frühstück aka Zähneputzen der feierliche Schwur geleistet worden war, den Rest des Lebens ohne die Einnahme von indischen Heilkräutern, ROTHHÄNDLE und dem unerreichten und mehrfach geseichten Ruppaner zu vollbringen, suchte man hier oben eine preisgekrönte KB – vulgo Kifferbank – auf und brachte das ermattete Gehirn wieder auf Betriebstemperatur. Den Körper stärkten anschließend Bisonwürste und etliche halbe Liter Gelbgetränk. Oder unten im Tal: der Schweinebraten im legendären Liggeringer Adler. Auf viereckigen Tellern serviert von der dicksten und freundlichsten „Frau Wirtschaft“ unter der badischen Sonne. „Ihr honnt schon lang nint Anständigs me gehabt, oderr? Wennt ihr Dünnele no Spätzle? Bierle no?“ „Ä Runde nemme mer noch!“ Die Käfer und Enten fuhren damals schließlich im Autopilotmodus nach Hause. Archibald betrachtete die wandelnden Riesensteaks mit hungrigem Interesse. Roh? Gesotten? Gebraten? Als Wurst? Das Kleine hinten links! Am Spieß! Alle halbe Stunde mit Met begießen! „Gefällt es Dir hier, Archibald?“ „Und wie!“ “Deshalb müssen wir jetzt gehen. Komm!“

bodanrueck3Ab und an verabredete sich die Markgrafenbande mit angrenzenden Freunden in der alten Ruine Bodman, zehn Laufminuten von den Bisons entfernt. Es galt der Dame „Lucy in the Sky with Diamonds“ die Referenz zu erweisen und die Nächte mit den Erscheinungen der erhitzten Jungmännerimagination – reale Damen waren damals eher selten geladen! – durchzutanzen. Das konnte sehr anstrengend werden. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie am besten sich selbst! Eines Morgens erwachten die Feierbiester aus ihrem Rausch. Unten der ewige See. Einer sagt: “Zuviel Idyll hier! Aufbruch tut not! Und klares Hirn.“ Es wird genickt. Zustimmung. Abschiede. Der Eine fuhr nach Kreta, erntete Tomaten und fand die Frau für den langen Rest seines Lebens. Ein Anderer ging nach Portugal, kaufte sich einen Esel und buk Brot. Einer flog über den großen Teich und lernte, wie man die Bretter, die die Welt bedeuten, ins rechte Licht setzt. Der kleine Lehrer unterrichtete fortan in Afrika und nahm ein junges Mädel mit. Noch einer emigrierte auf die Gemüseinsel und zeugte Kindlein. Der, der nach Graz zog, das Pianoforte zu studieren, war bald wieder da und stimmte die Klaviere, statt sie zu spielen. Einige blieben vor Ort und wurden nicht mehr gesehen. Wiederum andere verbrannten ihre Vergangenheit, gingen zum Barbier und rauchten fortan ihre Kontoauszüge. Gestorben wurde auch. Die Götter des Rausches fordern ihre Opfer. Ernst Albert brach auf, um den Beruf des Musentemplers zu erlernen. Und Archibald? Der schaut sich das alles an, denkt, was man als Bär so denkt und ist zufrieden, wenn der Chef zufrieden auf seinen See blickt und der Vergangenheit ein Kerzlein anzündet. Und findet durchaus, daß Gott der Herr, bei der Gestaltung dieser Gegend hier in großer Form gewesen sein muß. Film ab!

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Hinter Kaltbrunn und nahe Freudental kommt es zu einer Begegnung

Donnerstag, 17. Juni 2010 17:55

BegegnungWer mit Ernst Albert reist, der ist vor Überraschungen nicht gefeit. Archibald hat sich daran gewöhnt. Aber hier und heute. Sein Bärenherz pocht immer noch. Freude. Aufregung. Ein wenig Furcht. Das, was  da aus dem Gebüsch auf ihn zuraste. Der heiße Atem des Urvaters klebt jetzt noch an seinem Fell. Was für eine Stimme! Welche Kraft! Was eine Begegnung! Darüber hat Archibald vergessen, was er heute sonst noch alles erlebt hat, all die Geschichten, die er noch erzählen wollte. Jetzt muß er sich erst mal eine Büchse Thunfisch aufmachen (lassen). “Kann ich da ein bißchen Honig dazu haben und eine Karotte?” “Geht klar, Herr Mahler! Guten Appetit!”

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„Non scolae sed vitae discimus“ oder von Ernst Alberts Bildungspfaden

Donnerstag, 17. Juni 2010 0:59

Der letzte Fischer von der reichen Au war nett. Aber eine Lehrstelle hatte er nicht im Angebot. „I honn etz prinzipiell nix degegge, daß en Bär uff meim Boot hockt, aber hosch etz Du Abi gmacht?“ Archibald mußte verneinen. Ernst Albert tröstete. „Nicht traurig sein, kleiner Genosse. Erworbene Bildung und späterer Werdegang gehen nicht immer Hand in Hand. Umwege sind durchaus möglich. Das Erkennen von Talent ist eher selten eine Fähigkeit der Leichtgebücktgeher. Schaun wir mal!“ Und so schritten sie gemeinsam Ernst Alberts Bildungspfad durch die kleine reiche eingebildete Stadt ab.

schule1„Morgen! Setzen! Tafeln raus! Diktat!” So oder so ähnlich fing das alles an. Einschulung im Jahre Neunzehnhundertdreiundsechzig. Kein Spaß! Gewiß hatten die Lehrer Namen. Einer hieß Obermüller. Einer hieß Söll. Waren sie alt damals, oder sahen sie nur fürchterlich alt aus? Die Erinnerung an den letzten Krieg lastete schwer auf ihren Schultern. Und viele von ihnen hatten etwas in diesem Krieg verloren. Ein Auge, einen Arm, ein Bein, die Geduld, den Respekt vor ihren Zöglingen, die Fähigkeit zu lieben. In der Ecke stehen, Schläge mit dem Rohrstock auf die Handinnenflächen, Nachsitzen, Strafarbeiten: alltägliche Verziehungsmittelchen. Einmal in der Woche gab es einen halben Liter Milch und nach den Sommerferien wurde erwartet, daß man seine Geranie preiswürdig zum Blühen gebracht hatte. In der Pause prügelte man sich wegen geklauter Köllnflockenbilder und wenn man sich zu Hause beklagte, wurde der Satz: „Dann wehr Dich halt!“ gerne auch mal mit einer kleinen Ohrfeige dekoriert. Der Schulweg führte durch eine Schrebergartenkolonie. Die Kirschen aus Nachbars Garten schmeckten lecker. Wenn man schnell wegrennen konnte. Keine Narben. Jede Zeit hat ihre Unwägbarkeiten.

schule2Die folgende Zeit war jene, die den sogenannten Arbeiterkindern den Zugang zur höheren Bildung ermöglichen sollte. Die erste Große Koalition. Plisch und Plum! Willy ante portas! Latein! Agricola puellam ad cenam expectat! Sagen des klassischen Altertums! Mondlandung! Aus Cassius Clay wird Muhammad Ali! Der Wecker klingelt morgens um vier! Haare wachsen mit Bedeutung, sogar in tiefster Provinz! Dann geht es schnell. Vater kann nicht mehr und die Welt ist Feind! Schülerzeitung! Versammlungen! SMV! Stufensprecher! Machine Gun! Vietnam! Südafrika! Chile! Wo liegt das bitte? Hier, vor der Haustür, auf dem Schulhof! Macht kaputt, aber nicht was Euch kaputt macht, sondern einfach so! Oder Euch selbst! Die Lehrer hatten Namen. Der gütige Lins mit der Vokabelbeule. Der eitle Göpfrich. Der aufrechte Reichrath. Der verpeilte Brüstle. Der wehrlose Krucker aka die „Sandale“. „Zimpel“ Zimmermann, der geographische Leuchturm. Berger, der fummelnde Zeichenlehrer. Und der kleine große Generalist -“Ist Ihnen Georg Elser ein Begriff? Lesen Sie Hesse besser nicht!”- und Kommunikator Lehn. „Lassen sie uns heute über die Berechtigung des Tyrannenmordes sprechen! Und, meine Herren, über den Widerspruch zwischen Ihren großen Worten und Ihrer Angst, von der Sie keine Ahnung haben können! Über Jamben und den Daktylus informieren Sie sich bitte selbstständig!” Die Lehranstalt war Herrn Alexander von Humboldt gewidmet. Keine Narben. Ganz im Gegenteil. Irgendwann rutschte der Notenschnitt in den Keller. Ursache? Auch das Zusatzstudium an der Lebensuniversität auf der anderen Seite der Straße.

schule3“Costa del Sol” war der Name des Tempels. Der erste Billardtisch. Stierkampfplakate an den Wänden. Die Einführung des Schwänzens. „Ruppaner Bier: unerreicht! Zwei gsoffe, drei geseicht!“ Die Lehrer hießen nun Pepe, Emilio, Andres und Tonio. Unser Lernziel: una hara oder una ganja! Halbe oder Kleines! Tortilla! Gambas! Boquerones! Fisseplatte! „Des Zeugs hier, des kann doch kei Sau fresse.“ Alle tun es aber! Grundlagen schaffen! Und es ist billig! Drei Ebenen hatte das Kellerlokal! Jede Ebene hatte einen eigenen Stammtisch! Unten DKP, SDAJ und MSB Spartacus am großen runden Tisch. Eine Ebene höher die neuen Sekten und der Eleve Ernst Albert: KBW, KPD/ML. Und der eine kleine Tisch ganz oben im Eck: die KPD/AO. Beschimpfungen fliegen hin und her. „Revisionist! Spalter! Trotzkist! Volksfeind! Säckel! Du schuldescht mir noch ä Halbe!“ Nach dem dritten bis sechsten Bier: „Die Holländer, wosch, die honnt halt me Spielkultur, aber mir honnt de Müller. So einfach isch des! Pepe kumm, etz mach mal die Kischte an!“ Pepe steht auf. Zwei Minuten bis zum Anpfiff. Rechts oben auf dem Regalbrett der altehrwürdige Fernsehapparat. Eine karierte Decke schützt ihn vor dem Rauch der allgegenwärtigen ROTHHÄNDLE. Diese zwei Minuten benötigt das Gerät, um warm zu werden. Rudi Michels Begrüßungsworte retten den kleinen, stolzen Spanier vor der Steinigung. Weniger ungeduldige Naturen hatten die zwei Minuten genutzt. Man stand vor der Türe und prüfte die Qualität der unlängst in der kleinen, damals noch armen, aber auch schon sehr eingebildeten Stadt, eingetroffenen indischen Heilkräuter. „Du, Lugi? Hosch Du noch ä Busfahrkärtle für en Filter!“ Tief einatmen! “Roll another one!” Anpfiff! Weltmeister! Dann zurück über die Straße. Die paar Monate schaffen wir auch noch, gell! Genau! Abitur bestanden! Schnitt: Drei zu Null! Archibald hatte aufmerksam gelauscht. Er war erleichtert. Irgendwas geht immer! Fortsetzung folgt!

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Archibald ist reich für die Insel!

Mittwoch, 16. Juni 2010 11:37

reichenau1Für jeden ernsthaften Weltbetrachter ist es ein Gebot der Professionalität sich zuerst einen Überblick zu verschaffen, auf daß das Bild, welches man sich von den Verhältnissen macht, nicht zu arg aus dem Rahmen fällt. Was sah Archibald? Ein Eiland mit dem sprechenden Namen die Au der Reichen, von den lokalen Leichtgebücktgehern auch die Gemüseinsel genannt, im Gegensatz zu der von Sachsen, Brandenburgern, Südkoreanern und Schweden bevölkerten und zudem komplett vernachlässigbaren sogenannten Blumeninsel in einen anderen Teil des Sees. Gewächshäuser, überbordernde Felder, rauschhaft blühende Rabatten, Ferienwohnungen, noch mehr Gewächshäuser, überbordende Felder, rauschhaft blühende Rabatten, Ferienwohnungen und dies soweit das Auge reich(t). Kein Quadratzentimeterchen ungenutzt! „Zwische zwei Tomatestecke passet zehn Tourischtensäcke! Ho Narro!“ Wie war Archibald hierher gelangt? Das schwarze, glänzende und röhrende Ding zwischen Ernst Alberts Beinen nennen Zweibeiner einen Motorroller, für Archibald Mahler, Badenbär auf Abruf, war dies jedoch eine mobile Teilzeitwinterschlafhöhle. Eine Sitzbank wird hochgeklappt, man wird hinein gebettet, am rechten Ohr gluckert betäubend riechender Petrolsaft, unter dem Bärenpöter vibriert und heizt ein Motor und nach dem Herunterklappen der Sitzbank ist es dunkel wie im Enddarm eines Kodiakbären. Der seltsame Benzingeruch, na ja, aber sonst eine angenehme Art zu reisen, fand der Bär. Und wenn man auf hocher Wart solch Panorama serviert bekommt – keine Klagen! „Komm, Herr Bär, suchen wir Reste der alten Au!“

reichenau2Der Erfinder der empirischen Floralmeditation war begeistert. Ein altes Gewächshaus und hunderte kleiner Setzlinge im postembryonalen Zustand. Sitzenbleiben und sehen und hören und riechen bis die Frucht zur Ernte ruft. Und den armen Böhnchen und Fenchelchens und Salatileins Zeit lassen, allen Dünger verbannen aus der alten Wachshütte, nur Wasser und Sonne und den Geschmack aus sich selber entstehen lassen. Da kommt der Bauer. Er hat einen großen Kanister in der Hand. Da steht Bayer Leverkusen drauf. Ist es Rudi Völler, der Gurken für seine Truppe einkaufen will? Nein, im Juni der Bauer den Dünger draufhaut! Ab August werden die Etiketten gedruckt. “Biogemüse vom Bodensee”.  Ungespritzt gelogen! Glaub es oder nicht! Ein Reisebus parkt zwischen endlosen Reihen roten und grünen Blattsalates. Beetkunst. Sprachgewirr. Vertraute Töne. „Ei verbibsch! Nu gugge die Salade! Und dort spriesst de Tomade! Und die Ferienwohnung is auch noch zu hom, Muddi!“ Ernst Albert mahnte zum Aufbruch. Platz ist auf der kleinsten Insel!

reichenau3Insula Opulenta divida est in partes tres, qui sunt: Oberzell. Mittelzell. Unterzell. Jeden Teil schmückt eine alte Kirche. Ernst Alberts Lieblingskirche steht in Unterzell. St. Peter und Paul. Karg. Bescheiden. Fromm. „Komm mit ans Ufer! Ich zeige Dir etwas, was Dein Bärenherz höher schlagen läßt!“ Da saß Archibald in einem der letzten Fischerboote, welche es noch auf der Insel gibt. Zwei, drei Fischer können noch leben von ihrem Gewerbe. Der See ist ziemlich leergefischt. Die Fischer sagen, es seien die bösen Kormorane gewesen und wollen sie durch das Blasen von Uweseelas aus ihren Nistgebieten vertreiben. Kormorane sind aber taub und sehr hungrig. Schuld ist letztlich die Geldgier. Jeder Tourist will halt sein obligatorisches Bodenseefelchen. Die meisten Fische aber, die auf den Tellern der Sachsen, Brandenburger, Südkoreaner und Schweden landen, bestehen seit Jahren aus Formfisch, den flinke Kinderhände in Pakistan in die ursprüngliche Form geknetet haben. Sagt man! Nichtsdestotrotz: Archibald fühlte sich großartig zwischen Anker, Netz, Köder und Angelschnur. Sein Magen knurrte so laut, daß sich Frau Noelle-Neumann auf der anderen Seeseite im Grabe umdrehte. Morgen würde er den letzten Fischer auf der Au fragen, ob er eine Lehrstelle anzubieten habe. Petri Heil!

Thema: Im Heckerland | Kommentare (1) | Autor: Christian Lugerth

Archibald fällt den Entschluß, daß dort wo das Heckerland endet, es beginnt!

Dienstag, 15. Juni 2010 14:30

KN4Die Feierlichkeiten waren mehr als zufriedenstellend verlaufen. Vier Hütten hatten die allgegenwärtige Furcht vor schneller Heimreise vertrieben, die Sonne am Ehrentag der Holden den fiesen Sonntagsregen, Ernst Alberts Familie hatte die Angereisten hochleben lassen und dabei Fleischberge verzehrt und Getränkekisten geleert. Allgemeine Zufriedenheit. Eva Pelagia, Führende der Wettrangliste für einen Tag, war in Begleitung des Lütten Stan – “Hömma Kumpel, inne freie Natur is meine Konzentriertheit auffe Pöhlerei in bedenkliche Gefahr!” – leider schon wieder auf dem Heimweg. Der Wind wehte schwül, doch kühl über den See. Zeit, Fell und Hirn zu lüften. Die zwei am See verbliebenen Herrschaften betraten ein Stück Land, am östlichsten Rand der Stadt gelegen. Ein großes (noch) unverbautes Seegrundstück. Eine alte Adlige hatte dieses Kleinod einstens der kleinen reichen eingebildeten Stadt vermacht, damit die Einheimischen hier baden und sich in der Sonne aalen können. Einzige Auflage der Schenkung: niemals Eintritt zu verlangen und das freie Gelände nie zu verbauen. Und wie schwer dies den geldgierigen Zweibeinern  dieser Stadt fällt, davon könnte Ernst Albert Lieder singen. Tat er aber nicht. Herrn Archibald Mahler, momentan Seebär und kontemplativer Aquatheoretiker, juckte das alles nicht die Bohne. Sein erfreutes Bärenherz erspähte Wasser. Und was für herrliches Wasser. So groß erstreckt sich hier der See, daß man am Horizont die Erdkrümmung erkennen kann. Was sah er noch? Da vorn das Horn, oder wie der lokale Aufrechtgeher bemerken würde: da vörnle `s Hörnle. (Aha, man beliebt zu scherzen! Der Setzer!)

KN5aEin großartiger Blick. Seegras. Ein Rettungsboot. Ein Badefloß. Ein kleiner Leuchtturm. Ruhig dahin ziehende Schiffe. Eine übers Wasser hinweg grüßende Bergkette. Allerlei schwimmendes Getier, nahrhaft gewiß. Der Bär genießt und schweigt. Auf dem Stein am Ufer, seinem Meditationssessel, seltsame Schriftzeichen. Knallrot. „Nur für DLRG!“ Was mag das bedeuten? Ernst Albert kann man nicht fragen, denn der organisiert gerade ein neues Gefährt. DLRG? Welche geheime Botschaft verbirgt sich hinter den Lettern? Das Leben rudert gerne? Der letzte Regen ging? Dortmund lobt rackernde Gelsenkirchner? Die Liebe regiert Gedärm? Dolby, Longplay, Rush & Gong? Dieter leert Rotweingläser? Der Löw ruft Gomez? Die Liegewiese regelmäßig gießen? Danke liebe Randgruppe? Der Lugerth rätselt gerne? Keine Ahnung! Doch eines war gewiß, Archibalds nachdenklicher Bärenpöter hatte bisher keinen schöneren Platz besessen. Die Luft strömte klar und kraftvoll bis in die letzten Lungenspitzen hinunter und das Hirn arbeitete leise, präzise, unaufgeregt. Jawohl, der rechte Ort nur für Die Letztlich Richtigen Gedanken!

KN5„Das letschte Zipfele vom Heckerland!“ So sagen sie hier. Seltsam! Wo doch der Hecker mit seiner recht erfolglosen Truppe einstens hier losgegangen war. Andererseits haben damals alle drei lokalen Blätter mit keinem Wort den Marsch der – sehr dezenten – Revolutionäre erwähnt. Eine Angewohnheit, welche die Seehasen – so nennen sich die hier Ansässigen gerne mal – bis heute erfolgreich konserviert haben. „Paris? Da hont se de Eiffelturm. Des woss i au. Da brauch i it na! Und überhaupt: lonnt uns in Ruh. Wa wennt etz ihr scho widder?“ Soll die Welt da draußen machen, was sie will, der Seehas schweigt und erhöht die Preise. Ist die Ampel aber rot, wird ein zeternder Leserbrief verfasst. Natürlich hatte Ernst Albert – gebürtiger Seehas und begeisterter Nestbeschmutzer -  dies gestern gegenüber Eva Pelagia in einem seiner ausufernden Vorträge erwähnt. Übrigens Angewohnheit der Familie, wie Archibald unlängst feststellen durfte. Aber auch der Bär hört da gerne zu und merkt sich das ein oder andere. Und dann denkt er nach. Also: wieso nicht das erste Zipfelchen? Wenige Meter entfernt, im knöcheltiefen Wasser, erblickt er einen Stein. Ein Boot ist dort mit einer Kette befestigt. Ein Sprung. Da saß er. Vor dem “letschten Zipfele”. Und er beschloß, daß von hier aus das Heckerland seinen Anfang nehme. Denn merke: ein Schritt genügt und aus dem, was da endet, erwächst Beginn. Ha, genug gedacht für heute! Seltsame Geräusche von hinten! Uweseelas? Nein! Was für ein röhrendes schwarzes Ding hat der Ernst Albert denn da zwischen seinen Beinen?

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Manche Tage sind ganz besondere Tage und dieser Tag hier ist ein ganz besonderer, sagen wir hier!

Montag, 14. Juni 2010 0:20

eva_pelagia_14_6Sehr geehrte Frau Eva Pelagia!

Es regnet am See.

Das soll so nicht sein!

Aber es ist egal!

Wir verbeugen uns freudig in gratulierender Haltung!

Die Herren A.M. (BvB) und Stan, der Lütte Pöhler VierNull!

Ein Lied, zwo, drei, vier!

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Aufbruch, schauerlich – frohes Lied und tausend tote Dinge erwecken eine Stadt zum Leben

Sonntag, 13. Juni 2010 11:52

KN1Das war neu. Mit einer von Petrolsaft angetriebenen Blechmilbe war man noch nie verreist. Und zudem in Begleitung des geheimen Fieberthermometerhalters aka Herr Reinhard Kuno Theophil „Stan“ von Lippstadt-Budnikowski zu Datteln. Doch angesichts der Tatsache, daß Eva Pelagia am Volant saß und sich nicht am üblichen Hasenrennen auf den Betonpisten beteiligte, verlief die Reise für alle Insassen ruhig und angenehm. Archibald und der Lütten Stan im Heck vertieft ins Gespräch. Man diskutierte eine Idee. Sollte man als Duo gelegentlich die „Großen Pöhlerei Festspiele“ analytisch bereden, sich gegenseitig Ball und kritisches oder jubelndes Wort zuwerfen? Einigung fand noch nicht statt, da keiner der beiden sich bereit erklärte, die Perücke Marke „Netzers Günter“ überzustülpen. Der Wagen stoppte. Auf einem Hügel in der Nähe einer Gelehrten- und Studentenstadt, in der Ernst Albert einst im dortigen Musentempel gewirkt hatte, ein leuchtend weißes kleines Gotteshaus. Anstieg in atemraubender Schwüle und Gipfelrast mit belegtem Brote. (Man hatte dazugelernt!) Grandiose Aussicht! Manch ein Dichter hatte den Weg von der nahen Stadt des Geistes hierher gefunden. Uhland auch. Ernst Albert sang für Eva Pelagia eine alte Weise:

KN2„Droben stehet die Kapelle / schauet still ins Tal hinab / drunten singt bei Wies und Quelle / froh und hell der Hirtenknab. / Traurig tönt das Glöcklein nieder / schauerlich der Leichenchor / Stille sind die frohen Lieder / und der Knabe lauscht empor. / Droben bringt man sie zu Grabe, / die sich freuten in dem Tal. / Hirtenknabe, Hirtenknabe, / dir auch singt man dort einmal.“ Wo war Archibald? Der Bär hatte eine Höhle gerochen. Düster, klamm, der Atem kondensierte, brennende Kerzen erhellten schemenhaft. Ein ausgemergelter Mann, ein Spitzenkissen unter dem dornig bekrönten Kopf, lag nackend in der kalten Höhle. Stille, andächtig gesenkte Stimmen. Die Aufrechtgeher pilgern alle Jahre den steilen Berg hinauf, bitten den vom Kreuze Abgenommenen um Vergebung, Hilfe. Manche tun das zumindest. Archibald dachte nach. Seltsam, daß erst sein Tod diesen Menschen – Ecce homo! – ins Zentrum der Verehrung durch die Zweibeiner gerückt hat. Geht es bei den Bärengöttern auch stets um Schuld, Buße und Vergebung? Vielleicht ein Thema? Trotz erheblicher Zweifel an den seltsamen Glaubensritualen der Felllosen, Archibald genoß die Atmosphäre in der düsteren Höhle. Kurz faltete er seine Pfoten, falls dies eine Bärenpfote zuläßt. Aufbruch.

KN3Eine Stunde später roch Archibald die Nähe eines Sees, eines großen Sees. Solch einen großen See hatte er noch nie in seiner Nase gehabt. Der See bestand aus mehreren Teilen, diese verbunden durch einen Fluß, der den See speist und an dessen Ufer die kleine reiche eingebildete Stadt liegt, in der Ernst Albert aufgewachsen ist. Da saßen sie nun am Ufer des Seerheins, zu zweit. Archibald versuchte den Fachmann in Sachen Pöhlerei in die Grundlagen einer ausgleichenden und trotzdem stimulierenden Wasserrandmeditation einzuführen. Er scheiterte. In den Ohren des Lütten Stan die nervenzerfetzenden Uweseelas, in seinem Herzen Vorfreude und etwas Furcht vor dem heutigen Abend. Doch auch Archibald fand nicht die nötige Ruhe. Zum einen der morgige Ehrentag einer zentralen Person in seinem Leben und letzte Fragen der Organisation und zum anderen die kochende, übervolle kleine reiche eingebildete Stadt in seinem Rücken. Einmal im Jahr räumen die Einwohner und ihre Nachbarn aus dem Umland ihre modrigen Keller leer, legen alles, was sie schon fünfmal weggeschmissen haben, an den Straßenrand, in der Hoffnung, jemand kauft es ihnen ab, um es in den Keller zu bringen oder wegzuschmeißen und das ganze Gerümpel im Folgejahr wieder an den Straßenrand zu legen. Dafür bezahlt man eine happige Gebühr. Die Aufrechtgeher nennen das Flohmarkt. Dieser hier ist zwölf Kilometer lang und reicht bis ins Land des Nachbarn hinein. Archibald dachte, ob das etwa mit dem Ritual in der kalten Höhle auf dem Berg zu tun hatte. Wegschmeißen, sterben lassen und so entsteht Wert. Von Dingen, Beziehungen, Hoffnungen, Lieben. Seltsam, diese Zweibeiner! Der Bilderapparat rief. „Einigkeit und…“ Wieviele singen mit?

Thema: Im Heckerland, Küchenschypsologie | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth