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Wolziger Seelegien / Sechs / Wind

Donnerstag, 7. August 2014 12:58

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Biegst du, über den alten Plattenweg von Gönsdorf her kommend, am Dorfplatz von Klein Schauen (Kopfsteinpflaster, Dorfeiche, Feuerwehrhaus mit Storchennest, Kirche, Bushaltestelle) rechts ab, kommst du nach Groß Schauen. Durchquerst du – dich links haltend – den dortigen Dorfplatz (Kopfsteinpflaster, Dorfeiche, Feuerwehrhaus mit Storchennest, Kirche, Bushaltestelle), befindest du dich wieder in einem Kiefernwald. Fahr weiter und geradeaus Richtung SSW. Nach einem oder vielleicht zwei Kilometern stellst du dein Rad ab, nimmst den Trampelpfad linker Hand durch kniehohe Wiesen und Felder, bereitest dich auf einen Großangriff hungriger Stechmücken vor und findest nach einer halben Stunde den Turm.

Archibald Mahler saß auf dem Holzgeländer, welches die oberste Aussichtplattform des Turmes sicherte, geschätzte zwanzig Meter über den Erdboden. Man sollte anmerken, daß im Laufe des Tages ein tückisch böiger Nordost – Wind eingesetzt hatte. Dieser unberechenbare – noch direkt von vorne kommende – Wind drückte Mahler gegen den Pfosten, an den ihn Herr Ernst Albert mit der ihm eigenen Risikobereitschaft (ja, natürlich steigt da der eh schon zu hohe Blutdruck ängstlich an) gesetzt hatte. Herr Mahler war aber zu beschäftigt mit dem großen Schauen, als daß er sich der existentiellen Wackeligkeit seiner Position bewußt werden konnte. Weites Land. Leeres Land. Stilles Land. Keine Aufrechtgeher. Nun gut, die Spuren eines fetten Jeeps unten im Gras sichtbar und den Turm muß ja auch jemand gebaut haben … egal!

Ernst Albert griff behende zu, in jenem Moment als eine seitliche Böe den besten aller Bären schon ergriffen hatte und in den jähen Abgrund schleudern wollte, mußte aber dafür das Notizheft, welches er bei sich führte, um Eindrücke und Hirnskizzen festzuhalten, außer acht lassen und einige lose Blätter segelten Richtung Abgrund oder … nun: irgendwohin. Dummerweise hatte der Wind die ersten Seiten der allerersten Notate, die im ICE kurz hinter Stendal zur Niederschrift gebracht wurden, erfaßt. Keine große Kunst, eher Dokument eines nicht wirklich erfreulichen Zustandes von Leib und Seele, aber nun mal notiert und ein Beginn und der Vollständigkeit halber durchaus von gewisser, auch emotionaler Bedeutung. Dreimal den Turm hoch und runter, Mahler inzwischen windfest verstaut. Etliche Flüche, dumme Selbstbeschimpfungen trug der Wind über den Schauener See. Dem war es gleich. Die Suche blieb erfolglos.

Archibald Mahler bot ein kleines Stückchen Überbrückungsvers an.

Heimat eins

Ich mag nicht mehr vergleichen. / Ich mag dort sein, / wo ich gewesen war. / Bleiben, / wo ich sein werde. / Der Wind weht mich ins / Nirgends. / Überall.

Ernst Mahler dankte, unwirsch noch, doch erfreut über einen Denkanstoß. Übers Reisen, die Heimat, Aufbrüche, Abbrüche und Wiederkehr, Scheitern, die Kunst und die Worte generell galt es noch intensiv nachzusinnen. Aber erst nach Märkisch Buchholz. Ein vierter Abstieg vom Turm, man brach auf.

„Herr Albert, schauen Sie mal, was da im Gras liegt.“

„Wahnsinn, ich glaube es nicht. Vom Turm bis zu diesem Wäldchen, das sind ja fast zweihundert Meter. Unfaßbar!“

„Herr Albert, bitte messen Sie dem Fund Ihrer Notate keine allzu große Bedeutung bei! Dank genügt“

„Ja, Gott sei Dank! Sie, bester Mahler, wären bestimmt nicht so weit geflogen!“

„Wer weiß?“

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Wolziger Seelegien / Fünf / Äpfel

Mittwoch, 6. August 2014 12:07

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Natürlich läuteten keine Kirchenglocken den Weg zu weisen in den Wäldern zwischen Klein – Eichholz, Streganz und Selchow, in den knirschend trockenen Wäldern, die Archibald Mahler auf dem Gepäckträger eines Mietrades querte, froh gelaunt, offenen Auges, lauschenden Ohres, keineswegs leidend unter der glühenden Hitze, die selbst in die letzten Zipfel des Waldschattens gekrochen war, Stamm, Ast, Laub, Nadel, Moos, Gräser, alles dörrte und zermürbte, doch nicht das Hirn des Bären, denn Mahler wußte, wer unterwegs ist, kommt irgendwo an, benötigt keine Hinweise, sei es auf Tafeln, von oben nicht oder unten oder sonstwo her, es genügt dem Impuls zu folgen und weiter geht man. Erst jener, der sich verlaufen hat, macht die Augen auf. Und so fand Mahler eine unbeschilderte Kreuzung im tiefen Forst weitaus interessanter als eine ausführlich beschilderte.

Ernst Albert hätte Archibald Mahler da gerne rückhaltlos zugestimmt, aber der Rücken, die Oberschenkel, der brennende Nacken, das klebende Hemd sowie Alter, Herkunft und Werdegang meldeten Bedenken an. Kontrolle! Plan! Präzision! Eindeutigkeit! Der hervorgestoßene Fluch richtete sich jedoch gegen den Absender selbst und machte umgehend Platz einem vagen Wunsch, daran glauben zu können, ja sogar darauf vertrauen zu können, daß ein Umweg zu einem neuen, gar die Augen öffnenden, vielleicht still gewünschten, erhofften Ziel führen möge, daß eben die vielbesungene Koinzidenz, daß diese, wissend, vorhersehend, den Reisenden führt! Von wo? Wer?

Selchow! Ein Straßendorf, das sich zwischen zwei Wäldern durch abgeerntete Felder windet, einer bewohnten Schlange gleicht, in deren Mitte, als habe die Schlange ein großes Kaninchen herunter gewürgt (Verzeihung für dieses Bild, bester Herr Budnikowski!), ein ovaler Platz sich auftat, uralte Eichen, das Feuerwehrhaus mit Schlauchturm, Storchennest (unbewohnt) und die Kirche. Freundliche Ruhe, ein Traktor rattert vorüber, ein älteres Ehepaar führt den Hund spazieren, man grüßt, entspannt. In der offenen Kirche empfängt wohltuende Kühle, einer der an der Pforte angekündigten Engel fächelt Luft zu und reicht ein Blatt. Ein Text von Hans Dieter Hüsch. Ernst Albert erinnert sich an den Geschichtenerzähler und Prediger vom Niederrhein, erinnert dessen knarzende, nasale Stimme und den Sound der elektrischen Tischorgel, mit der er seine rasend vorwärts stürmenden Wortkaskaden begleitete, gliederte, durchschoß. Ernst Albert las:

Juni – Psalm:

Herr, es gibt Leute, die behaupten, der Sommer käme nicht von dir. / Und begründen mit allerlei und vielerlei Tamtam und Wissenschaft und Hokuspokus, / daß keine Jahreszeit von dir geschaffen und daß ein Kindskopf jeder, der es glaubt. / Und daß doch keiner dich bewiesen hätte und daß du nur ein Hirngespinst./ Ich aber hör nicht drauf und hülle mich in deine Wärme. / Und saug mich voll mit Sonne und laß die klugen Rechner um die Wette laufen. / Ich trink den Sommer wie den Wein. Die Tage kommen groß daher / und abends kann man unter deinem Himmel sitzen und sich freuen, daß wir sind und unter deinen Augen leben.

Ein Gebet sprechen? Warum nicht! Für diesen Tag galt es sich zu bedanken. Und für den Umweg erst recht. Wo das Glück einen hinführt.

Archibald Mahler saß derweilen auf den Stufen vor der Pforte und beschäftigte sich mit dem Reiseproviant. Äpfel aus dem hiesigen Pfarrgarten. Äpfel! Pfarrgarten! Der Garten Eden! Die Erkenntnis! Das Feigenblatt! Paris und Helena und Aphrodite! Der Krieg um Troja! Die Odyssee! Weia! However: an apple a day, keeps the doctor away.

“Herr Albert, da gibt es doch so ein altes Gedicht, von dem Mann, der an die Kinder Äpfel verteilte und als er tot war, wuchs der Baum aus seinem Grab und das war doch auch hier irgendwo in der Gegend!“

„Fast, Herr Mahler, fast! Aber in diesem Gedicht handelte es sich um eine Birn’, die der gute Herr von Ribbeck auf Ribbeck an die Jungs und Dirn’ verteilte!“

„Kann man eigentlich, statt zu beten, auch so einen Apfel essen?“

Das waren die Fragen, für die Ernst Albert seinen Bären liebte. Die Äpfel mundeten sehr.

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Wolziger Seelegien / Vier / Sand

Montag, 4. August 2014 20:39

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Vierzig Euro für acht Tage Fahrradnutzung. Bezahlbar bei Rückgabe. Bar. Fertig. Aus. Ernst Albert verkniff sich den Gedanken nicht, daß er für diesen Preis an dem See, an dem er aufwachsen mußte, heutzutage ein Fahrrad bestenfalls ans sogenannte „Hoernle“ und wieder zurück treten durfte, um es am nächsten Tag frisch geputzt, aufgepumpt, geölt und vollgetankt wieder abgeben zu müssen. Gleich darauf aber atmete er – wie er es von Wachtmeister Krause gelernt hatte – tief ein, zählte bis drei, atmete aus („Weg, weg, weg!“) und war zurück im Landkreis Oder – Spree.

„LOS! Parole Bestandteil, Genosse Albert!“ Archibald Mahler forderte den Aufbruch. Und das Fahrrad rollte augenblicklich durch – Zitat F. F. – „die schreckliche märkische Tristesse von Sandboden und Kieferngehölz.“ Hochstämmige Kiefern in Reih und Glied gepflanzt, diszipliniert gewachsen, aufrecht verblieben, als sei gestern noch der flötenzwitschernde Zwerg Großfriedrich mit seinem Windspielen im Schlepptau vorbei gehuscht und habe kleinstgnädig die Parade abgenommen. Die Sonne brannte derweilen ihre sechsundsdreissig Wärmegrade in den Sand hinein und mürbte die Hirne der kleinen Reisetruppe.

„Vorsicht, Genosse Albert! Das Hinterrad unseres Gefährts suppt weg!“ Man schlingerte. Archibald Mahler fühlte sich veranlaßt zu warnen. Ernst Albert dichtete daraufhin und handelte. Oder andersrum?

Im Sand:

Der märkische Sand trat ab nach rechts, / entwischte nach links, / sank und hob sich. / Die geliehenen Reifen nagelten / den Pudding an die Wand. / Es blieb der Versuch. / Als er runtergeschaltet hatte / in den ersten, den kleinsten / Gang rollte er / nicht immer, / aber doch / vorwärts. / Dann schob er wieder / das Rad. / Die märkische Hitze / sedierte ihn. / Wenn Oberschenkel brennen, / steig ab.

Die Pausen waren mittlerweile länger als die Phase des Vorantretens geworden. Das pausenlos eingeflößte Wasser verließ den Leib inzwischen nicht mehr via Prostata und Blase, sondern trat aus Stirn, Unterarm, verlängerten Rücken und Fußsohle zurück in die Mark Brandenburg.

Die nächste Wegkreuzung im knirschend trockenen Wald zeigte sich komplett schilderfrei. Nun? Ernst Albert kehrt prinzipiell nicht um. Und Archibald Mahler? Wo denken Sie hin? In der Ferne klangen Kirchenglocken.

„Ich denke, wir biegen links ab! Oder?“

Archibald Mahler stimmte zu und dichtete nach:

Wegekreuz:

In den Zufällen sah ich eine Landkarte. / Gestern. / Morgen aber, dachte  ich, / werde ich mich verirren müssen.

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Wolziger Seelegien / Drei / Stille

Sonntag, 3. August 2014 17:20

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Als das hellblaue Tretboot an Fahrt verlor, dann zum Stillstand kam, die Antriebswalze ein letztes Gluckern von sich gegeben hatte, wurde es still, so still, daß Archibald Mahler vernehmen konnte, wie das erste Tageslicht auf die spiegelglatte Wasseroberfläche traf. Die Morgensonne schob sich leise flimmernd über das Schilf und kündigte einen sehr heißen Tag an. Bachstelzen huschten vorbei, mit kurzen, gehackten Flügelstößen. Eher sah es aus, sie sprängen von einem unsichtbaren Luftpolster zum nächsten, als daß sie flögen. Der Wind war eingeschlafen und das Schilf reckte schweigend seine Büschel ins wachsende Blau. Archibald Mahler hatte das Gefühl die Stille greifen zu können. An diesem Morgen war ihm, als gäbe es ihn gar nicht, sondern er sei einzig und allein Bestandteil.

„Scheiß Stille!“ Herr Ernst Albert fluchte gerne und wenn dann laut.

„Pst, lieber Herr Aufrechtgeher!“

„Au! Entschuldigung!“

Ernst Alberts Nacht war zermürbend gewesen. Finster, mondlos, kein Lüftchen regte sich, kein Blatt rührte sich, die Vögel schliefen tief und fest und alles was summte und surrte auch: absolute Stille und tiefste Dunkelheit. Und als sei die Haut eines Aufrechtgehers eine semi-permeable Membran, versuchte die ganze in Ernst Albert abgelagerte Unruhe, Wut, Unzufriedenheit, das ganze Unerledigte, Unmögliche, Unerklärliche der letzten Wochen und Monate nach außen zu dringen, schmiß den hilflos dieser ungewohnten Stille ausgesetzten Leib von rechts nach links, von links nach rechts, Schweiß schoß literweise aus den Poren. Licht an. Licht aus. Licht an. Klospülung rauscht. Fernseher kräht. Aus. Zwei Seiten gelesen. Nichts verstanden. Sinnlos. Mehr Schweiß und mürbe Knochen. Der Rücken knarzt und knackt. Allein der tiefen Stille, die draußen vor dem Fliegengitter liegt, gelingt es nicht durch die Membran in das Innere des Ernst Albert zu gelangen. Erst als der Morgen graute und die Vögel zu ihrem Begrüßungsgesang anhoben, fand er etwas Schlaf.

Archibald Mahler focht dies nicht weiter an. Sein Winterschlaf war lang genug gewesen und überhaupt, wann und ob dieser Bär überhaupt schläft, wer weiß das schon.

Nächtens hatte Ernst Albert versucht einige Worte niederzuschreiben:

Diese Stille:

Ruhiges Rauschen / Kein Wind / Kein Vogel / Einmal nur der Dackel des Dauerkämpfers….

„Oh Weia! Dauerkämpfer statt Dauercamper!“ Ein Seufzer und er zog sich ein wiederholtes Mal die Decke über die Ohren, um diese gnadenlose Stille nicht hören zu müssen. Umsonst, der Spielmannszug, der durch seine Hirnwindungen marschierte, gab keine Ruhe. Als Ernst Albert um 7 Uhr der Wecker aus dem kurzen Schlaf riß – er hatte am Vorabend Herrn Mahler versprochen ihn auf den See hinaus zu ‚trampeln’, schließlich hat der Aufrechtgeher die langen Beine – sah er, das seinem Notat ein Postscriptum beigefügt wurde.

PS: Dauerkämpfer bis die / Bitterstoffe hineinsinken in / die letzten Winkel / des / überlastet getriebenen / Herzmuskels.

Archibald Mahlers Laune war prächtig. Zum einen lebte es sich als Bestandteil wesentlich angenehmer denn als Betrachter oder Bewerter und zum anderen liebte er es gelegentlich den einen oder anderen Satz in den Poesiealben Ernst Alberts zu hinterlegen. Und auf einen See hinaus getrampelt zu werden, ist auch nicht ohne. Entschlossen beendete er die göttliche Stille.

„Herr Albert?“

„Ich höre!“

„Sie haben schon über eine halbe Stunde lang nicht gesprochen!“

„Ja! Und?“

„Sehr fein! Das Wasser zu treten, schadet Ihnen nicht. Also: an Land geschwind. Erstens Hunger und dann holen wir das Fahrrad ab!“

„Gleich! So ein blaues Blau aber auch!“

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Wolziger Seelegien / Zwei / Ankunft

Freitag, 1. August 2014 14:30

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Als Archibald Mahler am westlichen Ortsrand von Görsdorf hinter einem Fliegengitter saß, auf ein mehrere Fußballfelder großes Seegrundstück blickte – inklusive eines kleinen Hafens, diverser Boote, vier Bänke am schilfbestandenen Ufer des Wolziger Sees, inklusive kreisender Schwarzmilane, Rotmilane, prächtiger Seerosenfelder, dreier wartender Liegestühle, patroullierender Schwäne, eines in den See ragenden Holzstegs (von Enten gründlich bekotet), kreischender Kormorane, flieghüpfender Bachstelzen, Bleßhühnern ungezählten, springender Fische – also auf ein Seegrundstück blickte, welches ihnen in den nächsten Tagen meist zur alleinigen Nutzung zur Verfügung stehen würde, da fragte Herr Archibald Mahler den Herrn Ernst Albert, was ihn nun an diesen Ort geführt habe.

Ein glücklicher Zufall sei es gewesen, antwortete Ernst Albert, aber er wolle hier auch jemanden besuchen, um das Erinnern wieder zu lernen. „So! Aha!“, erwiderte Mahler und erblickte in dem kleinen, zum mehreren Fußballfeldern großen Grundstück gehörigen Hafen, ein hellblaues Tretboot.

Ernst Alberts Zustand hatte innert der letzten Stunde eine schlagartige Besserung erfahren, jene Art von sich plötzlich einstellender Scheinheilung, welche dem Kranken widerfährt, wenn er im Behandlungszimmer des Arztes Platz genommen und in sich den heftigen Drang spürt, aufzustehen und zu gehen, da er sich in diesem Moment weitgehend genesen fühlt.

Archibald Mahler versank im Schauen und ihm war gänzlich unelegisch. Wirklichkeit und Ideal schienen hinter seinem Fliegengitter eins zu sein.

Ernst Albert hatte vor Stundenfrist durch einige – wie er später erfuhr – irrtümlicherweise offen gelassene Türen, die Storkower Bahnhofsgaststätte betreten. Heftiger, schwülfeuchter Bier-, Rauch- und Schweißgeruch schlug ihm entgegen. Am Tresen hing erschöpft die Fahne Deutschlands. Posttriumphal. Eine Wirtin, die dieses Lokalloch offensichtlich seit guten 10 Jahren nicht mehr verlassen hatte und ihr Sohn – ein überdimensioniertes, bierbäuchiges, über 40 jähriges Heavy Metal – Kid, mit Wacken – T – Shirt und Adiletten bekleidet – traten ihm entgegen. Alberts Frage nach einem Telefonbuch oder der Rufnummer eines örtlichen Taxis wurde – nachdem ein erstes Abwehrkläffen verklungen war – freundlichst beantwortet. Als dann der Chauffeur der Taxe, welche nach einer raschen brandenburgischen halben Stunde den Gast abgeholt hatte, auf die Bitte, er möge doch morgen früh noch mal am Zielort vorbeirollen, um den Gast zurück nach Storkow zu befördern, er plane dort ein Fahrrad zu mieten, antwortete: „Jetz kieken Se erstmal, ob da in Görsdorf nich een Bus fährt. Ick brauch Ihnen ja morgen nich schon wieder fuffzehn Euros aussem Portemanee ziehen. Wir ham et alle ja nich so dicke, wa?“, da hatte Ernst Albert das Gefühl, daß der Engel, an den er sich hier erinnern wollte, schon mal kurz um die Ecke geschaut hat.

„Herr Albert, wohin gehen Sie jetzt?“

„Ich gehe essen!“

Essen gehen, jawoll. Zwokommafünf Kilometer entlang der Strasse oder dreikommafünf Kilometer durch den Kiefernwald bis zur nächsten Kneipe. Und wieder zurück.

„Guten Appetit und verlaufen Sie sich nicht, Herr Albert! Ich fahre morgen das hellblaue Tretboot!“

Ernst Albert setzte seine Mütze auf und seinen aufgekratzt müden Körper in Bewegung und Archibald Mahler dachte sich – endlich allein – noch ein Gedicht aus:

Am fremden See:

Ich betrachte mein eigenes Fell / Wie das eines Fremden. / Die Stechmücken können mir nichts anhaben. / Ich kratze den, / Der neben mir sitzt.

Und darüber schlief er ein und verpaßte einen Sonnenuntergang.

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Wolziger Seelegien / Eins / Radwechsel

Mittwoch, 30. Juli 2014 20:50

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Das was er an einem heißen Julitag in der Scheibe des Fensters eines Zuges kurz hinter Stendal gespiegelt sah, war zweifelsfrei Archibald Mahler.

Ernst Albert war unterwegs. Sein Körper schmerzte. Manche seiner Gedanken auch. Dennoch fühlte er sich etwas besser als in den letzten Wochen und Monaten. Wenn Räder unter dir rollen, stehen die Räder in dir still.

Aha, die Scheibe eines Fensters eines Zuges erwählt sich Archibald Mahler also um wieder aufzutauchen, dachte Archibald Mahler, als er sich in der Scheibe des Fensters eines Zuges kurz hinter Stendal nach Wochen, ach Monaten wieder erblickte. „Da bin ich ja! Es gibt mich noch!“, stellte er fest, ohne sich sonderlich zu freuen. Dennoch fühlte er sich wohl, denn wenn unter ihm Räder in Bewegung waren, hatte sein Bärenkopp Ruhe. Ein bisserl.

Ernst Albert blickte aus dem Zugfenster, durch den gespiegelten Kopf seines Bären hindurch und spielte mit sich ein altes Spiel, ein Spiel mit welchem er sich in seiner Kindheit und frühen Jugend auf Reisen gerne seine als Langeweile getarnte Aufgeregtheit vertrieb. Er stellte sich vor, er laufe neben dem fahrenden Zug her, überspränge Zäune, Wasserläufe, Wege, haste durch Schrebergärten, über Felder, quere Fabrikanlagen, versuche im letzten Moment entgegenkommenden Zügen auszuweichen und dabei nicht gegen Signalmasten zu prallen. Hauptregel: immer rechts neben dem Zug entlang. Zentrale Nebenregel: Tunnel nicht durchqueren, sondern über den Berg jagen und am Tunnelausgang rechtzeitig neben der Lokomotive wieder auftauchen. „Ick bin all hier.“ Hase und Igel.

Archibald Mahler hatte eine Zeit lang die Schreibfeder niedergelegt, geflissen geschwiegen und die Welt an seinem Pöter vorbeirauschen lassen. Da hatte ihm gut getan und der Welt nicht weiter geschadet. Ernst Albert hätte es ihm öfters gerne gleichgetan, aber eine fatale Mischung aus Erfordernissen der Musentempelei, Nachfragen aller Art, seinem Naturell und einer akuten Zivilisationsallergie hatten dies verhindert.

Das Ziel der Reise: Storkow Klammer auf Mark Klammer zu. Der Anlaß der Reise: Mahler juckte das Hirn und Albert auch. Der eine nun will erzählen, der andere aber will ein Schweigen lernen.

Der Zug querte weites, flaches Land. Keine Hügel, kaum Häuser. Felder. Wälder. Felder. Wälder. Blickland. Atemland. Ernst Albert durchblätterte seine Reiselektüre.

„Hör mal, Mahler, das hier:

Der Radwechsel:

Ich sitze am Straßenrand / Der Fahrer wechselt das Rad. / Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / Mit Ungeduld?“

„Was ist das?“

„Eine Elegie.“

„Wer sagt das?“

„Bertolt Brecht.“

„Ist das so, wenn man unterwegs? Wenn man reist?“

„Manchmal ist das so, wenn man nicht mehr da, aber auch noch nicht dort ist!“

„Eine Art ‚Zer – Reise’ sozusagen, Herr Albert?“

„Sozusagen!“

Archibald Mahler nahm sich vor, morgen rauszufinden, was eine Elegie ist. Dann mußte man umsteigen. Zweimal. Dreimal. Die Hauptstadt rauschte vorbei und die Züge wurden immer kürzer und leerer. Man erreichte das vorläufige Reiseziel: Storkow (Mark).

„Und wo stehen jetzt die Taxis?“

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Zuviel Himmel im Kopf / Mahlers 2014 / 015

Sonntag, 4. Mai 2014 21:02

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Archibald Mahler war hinab gefallen. Warum war er hinab gefallen? Ernst Albert hatte ihn auf den Schrank gesetzt. Ernst Albert habe ihn auf den Schrank gesetzt, auf den Schrank in seinem Zimmer, wo eine seiner Gitarren läge, dorthin habe er Archibald Mahler gesetzt, erklärt er. Sicher war Mahler da nicht gesessen, weil er auf der Kippe des Schrankes saß. Was geschah dann? Zwei Fenster wurden gekippt, die sich gegenüber lagen, der Wind zog durch und Archibald Mahler war hinab gefallen. Unbemerkt hinab gefallen, denn Ernst Albert hatte die Höhle verlassen und ging ein Buch lesen und trank dazu einen Wein und bemerkte nichts. Archibald Mahler blieb so allein und lag zu Füßen des Schranks unter einem Wäscheständer. Ernst Albert schritt derweilen in seinem Buche wacker voran, dort in seinem angesteuerten Lokal, orderte einen Nachfolgewein und nach einer gewissen Zeit aber erreichte ihn eine elektronische Frage. Eva Pelagia fragte an: wo ist archibald? Kleingeschrieben, knapp, dringend. Eine richtige Frage eben. Ein Telefonat folgte. Kurz gehalten, präzise, dringend. Nach dem Nachfolgewein des Nachfolgeweines kehrte Ernst Albert heim. Dringend gefragt hat er dort: wo ist archibald? Präzise kurz gehalten ein Fingerzeig der wunderbaren Eva Pelagia. Eben da! Der Bär saß, wo er saß, als er das erste Mal saß und schaute auf die Welt. Er schien sich wohl zu fühlen, der Bär. Sah so aus jedenfalls oder vielleicht. Warum? Weil er wieder von vorne anfangen wollte? Hatte Mahler einen neuen Plan? Wir vermuten einfach mal was und spekulieren rum. Was denn jetzt? Der Bär erinnert sich, bevor er weiter macht, erklärt der Bär. War der Bär auf den Kopf als er fiel, war er auf den Kopf gefallen? Und wenn er auf den Kopf gefallen wäre der Bär, hätte dies eine Bedeutung? Lassen wir den Bären einfach in Ruhe. Er wird sich melden. Jetzt schaut er auf die Welt, während der Himmel in seinen Kopf verdampft. Oder er sitzt auf ihr, auf einer der vielen Welten. Hinter einem Fenster.

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Zuviel Himmel im Kopf / Mahlers 2014 / 014

Freitag, 2. Mai 2014 20:00

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ich hatte gestern

gestern hatte ich zuviel finales gestern

zu hause mag man

gerne bleiben wir zu hause

aber unter meinem hut

nein

und da dachte ich jetzt müsse ich aufhören

damit ich wieder von vorn

oder von vorne

würde ich anfangen

wieder aufzuhören

sagte mahler

als der hut seine augen freigab

erklärte er

er spräche mit der stimme seines herzens

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Zuviel Himmel im Kopf / Mahlers 2014 / 013

Dienstag, 29. April 2014 21:44

himmel_015

ich hatte gestern

gestern hatte ich zuviel gestern

finales

zu hause

wir bleiben wir

oder sind wir wir

wer sind wir

bonjour tristesse

aber darum wird sich budnikowski kümmern müssen

oder werden

real galaktisch weiss

weiß ich das

was wird werden

gleich noch

budnikowski wird wissen werden

unter dem hut werde aber ich nicht bleiben

wohnen bleiben nicht

jedoch unter dem hut bleibt der himmel über mir

dann aber doch

im kopf bleibt der himmel

auch unter dem hut

früher lüftete man hüte

zum gruß

herr nachbar

zum gruß

lüftete man

den hut

freundlichst eine geste der liebe

ein hallo unter dem balkon

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Zuviel Himmel im Kopf / Mahlers 2014 / 012

Sonntag, 27. April 2014 16:28

himmel_012

ich hatte gestern

gestern hatte ich zuviel gestern

heute habe ich so viel vorgestern

genauer noch

nein

vorgestern viel mehr

vielmehr vor dem vorgestern

als ich plötzlich weg war wollte

tage lange tage her

lange her war ich

weg war ich getaucht und der himmel im kopf hatte

der pocht immer im kopp

manchmal kommt der himmel darüber über dem im kopp

dazu und pocht lauter noch und der bär denkt

ich muß nicht immer dasein

ich kann auch mal genau

weg

sogar mein alter genosse budnikowski

hat alles was rund ist und rollt so satt

welt bälle felle

so satt das gekeife und gewisse und ich auch

unter dem hut liebkose ich meine langeweile an dieser

und jener

und was kostet die welt

zu viel so viel zuviel

koste mal

geschmack

geschmäckle

ein jeder trag sein päckle

und

schmeckt es

koste mal

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