Appenzeller Vergewisserungen / Der Abstieg
Dienstag, 23. September 2014 16:31
(Über der Nordflanke des Säntis zogen finstere Wolken auf. Archibald Mahler aber stand, stand vor dem Kruzifix des Wildkirchli, stand starr, starrend und sann nach. Über diesen kleinen riesigen Unterschied. Ein Wort lediglich. Aus der Tiefe, Herr, rufe ich nach Dir. Aus der Tiefe, Herr, rufe ich zu Dir. ‚Nach Dir’ hieße es, hatte er immer gedacht. ‚Zu Dir’ aber ist die korrekte Übersetzung. Der Unterschied? Das nach Dir: fordernd, etwas erwartend, ähnlich einer Notglocke im Hospital, als habe man Anspruch auf ein Ohr, einen Lottogewinn, ein glückliches Leben. Rettung sofort. Erlöse mich! Das zu Dir: ein Wissen um die Gegenwart eines Gegenübers, dessen Antlitz zwar gelegentlich verhüllt ist – wie eben gerade der Säntis – aber doch vorhanden, auch wenn unsichtbar. Im mühsamen Vertrauen auf die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme gilt es zu warten und es erwächst kein Anspruch, da werden keine Platzkarten für die Arche Noah verteilt, da stehst du jeden Morgen vor deiner ureigenen Wand, doch Glaube, Liebe, Hoffnung machen: man hält das aus. Aushalten, ja, ertragen und aushalten. Und der Bär im Appenzell dachte weiter, daß dies vielleicht nur seine Lesart sei, Mahlers ureigene Lesart, so wie ein jeder Reim in einem jeden Leser eine andere Glocke zum Klingen bringt. Ein fremdes Wort läßt eine eigene Geschichte vibrieren, ein fremdes Wort formuliert keinen Anspruch auf letzte Wahrheit, ein fremdes Wort gehört keiner Wissenschaft an, und wenn, dann würden aus dem fremden Wort lediglich Wörter. Diese mögen vielleicht fixieren, das Wort aber hält offen. Und weiterhin schien ihm plötzlich, wie wichtig es sei so manches Wort – vor Abschuß des Pfeiles – auf die Goldwaage zu legen, auch wenn dies viel Zeit koste und schnelle Befriedigung verhindere, man sich eventuell quälen müsse und es noch mehr Zeit und sehr viel Energie kostete aus den Sackgassen, in die man besten Gewissens hineingerauscht war, wieder rauszukommen und dranzubleiben am Zweifel, selbst wenn solcher Vorsatz zur Folge haben könnte, daß bär – angestrengt, überfordert, gemüdet – eines schönen Tages verstummte. Für immer. Das dachte Mahler angesichts des Gekreuzigten. Da drang des weißen Hasen Stimme an sein Ohr.)
„Hömma Mahler, hasse gerade Sodom un Gomera rückblickend gesichtet und ham Dich die Götters als Salzsäule inne Appenzeller Hügel gepostet oder wat? Mach hinne, dat Wetter hier iss inne alpine Blitzverdüsterung begriffen! Der Abstieg tut not!“
„Ach ja! Der Abstieg! Budnikowski, warum sprechen Sie eigentlich nicht mehr vom – wie nannten Sie das noch?“
„Vom Gepöhle?“
„So ist es!“
„Ach, da gittet doch ausreichend Schlausprecher innem Metier. Da kann der Hase gelassenst schweigen un brauch sich auch nich euphorisch vonne rote Sofa runterrollen, wennet neubayrische Pfannekuchenjesicht, welchet auffe nach obend besoffene Unsympattenskala dabei iss ‚Ein – Finger – Effe’ so wie unseren ‚Sechs – Ischen – Loddar’ zu überflügeln, ein zugegeben blitzsauberes (Hömma Berichtersabbler! Die nächste Verwendung von diese Vokabel kannet Leben kosten! Gruß: der Vollstrecker!) Törchen zum verdient glücklichen Nationalsiech inne Maschen kloppt. Verzeihung, natürlich gardiolt. Un diese nächsten zwei in China geklöppelten Sterne auffe Trikots für unsere bemalte Jubeljugend holen wir dann bei Zarewitsch Putin und danach auffe Proletenfriedhöfe bei die Scheichs ab. (Hömma Pep! Mit die zwei Katarsagtdankemilliönkes auf Deine Kontoulien kannse Deine Kinners wat Anständiges lernen tun lassen, dat die nich später mal wie Du auf Billigbenzedrin anne Rasenkante rumhampeln müssen! Kein Gruß vom Säzzer!) So getz zurüch anne wichtigen Themata. Wat dachten Sie gerade in Ihre biblische Statuarik?“
„Ach, bester Freund, nichts!“
„Dat iss gelogen!“
„Ja! Das ist es! Steigen wir hinab!“
(Dieser Abstieg hatte es in sich. Die Muskeln aller Beteiligten sangen ein Lied. Von den kommenden Katastrophen? Oder von den überstandenen Katastrophen? Weder noch! “Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.” Diesen Satz sprach der mitabsteigende Ernst Albert vor sich hin. Erstgedacht hatte diese Erkenntnis aber einst Sören Kierkegaard. Und plötzlich vor aller Augen der See!)
Thema: Appenzeller Vergewisserungen | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth