Wolziger Seelegien / Elf / Grab
Freitag, 22. August 2014 16:43
Archibald Mahler mag Friedhöfe nicht. Außerdem ist er – bei weiterhin guter Behandlung – unsterblich. Er blieb draußen vor dem Tore und bewachte das dort abgestellte Fahrrad. In guter Gesellschaft.
Ernst Albert hält sich gerne auf Friedhöfen auf. Er findet dort die Ruhe, bevor er da zur Ruhe kommen wird. Fühmanns Grab ward gefunden. Die bekannte Inschrift lesbar noch.
„Ich grüße alle jungen Kollegen, die sich als obersten Wert ihres Schreibens, die Wahrheit erwählt haben.“
Noch. Wie lange noch? Lesbar einerseits, als Anstoß ankommend andererseits? Der Engel – linker Hand des Grabsteins – leicht geneigt nach vorne steht er, noch nicht gestürzt, seinen Kopf etwas gesenkt. In welchen Abgrund blickt er? ‚Vor Feuerschlünden’, so der Titel der Erstveröffentlichung des besagten Monologes, einst in der ehemaligen Ex – DDR. Der Lektor / Verlag / ??? / West machten daraus: „Der Sturz des Engels“. Man muß das Buch lesen. Dann kann man darüber reden.
“Was uns anstrengt, lassen wir verwittern, lassen wir verkommen.” So dachte Ernst Albert und suchte den Friedhof nach einem schönen runden Gedenkstein ab, um ihn aufs Grab zu legen. Schwierig. Trockener Boden. Zerbrochene Ziegel. Sand. Kaum Steine, nicht mal Kiesel. Das Bier und etliche Liter Wasser fordern Freiheit. Ein Komposthaufen. Die hinterste Ecke. Brennesseln. Brusthoch. Durch den Zaun in den Wald. Schändung? Vor dreissig Jahren und wenigen Tagen standen sie hier und versenkten einen Sarg. Logen oder weinten. Es soll in jenem Sommer genauso heiß und drückend gewesen sein wie heute.
Einen Stein gefunden, nicht rund, eckig, rauh, einst Teil eines eingestürzten Gebäudes, mit Hämmern (und Sicheln und Zirkeln) bearbeitet, vielleicht. Einen Zweig eines Lebensbaums dazu gelegt. Am Grab eine Bank sei Dank und sitzen und nachsinnen. Nicht der Wahrheit. Zu groß das für heute. An diesem einen Grab nur sitzen und an den anderen Gräbern so auch sitzen. Am Grab eines untergegangenen Staats. Falscher Hoffnungen? Einst richtiger Hoffnungen auch. Des Vaters. Der Träume, ersoffen, mit Steinen beschwert versenkt in den Tiefen der Sachzwänge und Gier. Der Gegenentwürfe, trotzig und wohl überlegt. Des Anderen? Des nach Auschwitz einzig möglich Anderen? Einer verlorenen Liebe. Gedankenlos weggeschmissener Lieben. Liebeleien? Utopien. Illusionen. Ach, all die den Tod in Kauf nehmende Besserwisserei. Das Kettenkarussell dreht sich. Aus dem mitgebrachten Buch fällt ein Zettel, dreißig Jahre alt wohl:
“Bei dem im Impressum auf Seite 4 angegebenen Preis handelt es sich um einen Druckfehler. Der Preis für dieses Exemplar beträgt 13,80 M.”
Fühmann: Erzählungen 1955 – 1975. Ab Seite 143: ‘König Ödipus – Eine Idylle’. Die Untoten grinsen weiterhin. Penetrant bleiben die Träume, noch pochen sie. Vergessene Besuche. Kindliche Fragen. Feige Zweifel. Zeigefinger. Systeme. Würgegriffe weiter. Kontrollverlust verleugnet. Schuld? Wenig Sühne. Rückwärts geblickt und wissen: lesen, lesen, lesen müssen. Am Grabe weiter graben auch. Nahe des Zauns, da hinten, neben der kleinen Kapelle, eine frisch ausgehobene Grube: hinein mit dem ganzen alten Zeugs? Wirklich? Nein. Täuscht Euch nicht. Noch geht es bergauf. Noch. Nichts ist vorüber. Nichts. Ein Satz Fühmanns aus einem Brief an einen deutschen Kulturfunktionär gleitet vorüber:
„Einer grünen Bank wird vorgeworfen, daß sie kein blauer Tisch ist!“.
Weia! Mittags um zwei, bei fünfunddreißig Grad im märkischen Schatten darf man kein Bier trinken oder besser gleich zehn.
Archibald Mahler hatte inzwischen sein Gespräch mit dem Engel beendet. Man war sich nicht fremd, hatte man doch schon in der Dorfkirche von Selchow kurz miteinander gesprochen, Äpfel kauend.
„Herr Albert, vor uns liegen noch fast vierzig zu radelnde Kilometer und Sie sind mein Chauffeur!“
„Uff!“
Das Fahrrad rollte weiter, Mahler feuerte an: Gepäckträgerpoesie!
Fühmann ist der bessere Brecht
Oder
Zum Sieg gehört die Niederlage
Wie der Maulwurf / der sich gräbt wühlt ackert / unermüdlich unerschrocken unerbittlich / durch das Bergwerk / die Stollengänge seines Lebens / dessen getrübtes Auge nicht sieht den nahenden Stiefel / einmal nur die Sonne auf seinem Fell einmal nur / Tereisias ach Tereisias / der Stiefel des Bauern / fährt nieder / einmal nur die Sonne auf seinem Fell wollte er spüren / der Schädel bricht als / die Sonne auf seinem Fell glitzerte sekundenlang / bevor er schob seinen Schädel hinaus ins Licht
„Mahler, weißt Du was Christa Wolf über den Franz Fühmann geschrieben hat?“
„Sag an, Chauffeur!“
„Sie schrieb: ‘Ja, rigoros ist er gewesen, und er war mir immer ein wenig unheimlich in seiner Unbedingtheit… Er konnte verachten, anhaltend und unversöhnlich. Aber er konnte auch – fast möchte ich sagen: vor allem – rückhaltlos bewundern und bejahen.’ Ich mag das.“
“Kann ich mir denken!”
Dann lachten Archibald Mahler und Ernst Albert auf, gleichzeitig. Am Ortsausgang von Märkisch Buchholz – gewiß linker Hand – über der Tür einer aufgegebenen Kneipe grüßte: dieses Schild.
„Bär Archibald Mahler, das glaube ich jetzt nicht.“
„Herr Ernst Albert, der Ketzer ist der erste unter den Gläubigen!“
Thema: Wolziger Seelegien | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth