Donnerstag, 17. Juni 2010 0:59
Der letzte Fischer von der reichen Au war nett. Aber eine Lehrstelle hatte er nicht im Angebot. „I honn etz prinzipiell nix degegge, daß en Bär uff meim Boot hockt, aber hosch etz Du Abi gmacht?“ Archibald mußte verneinen. Ernst Albert tröstete. „Nicht traurig sein, kleiner Genosse. Erworbene Bildung und späterer Werdegang gehen nicht immer Hand in Hand. Umwege sind durchaus möglich. Das Erkennen von Talent ist eher selten eine Fähigkeit der Leichtgebücktgeher. Schaun wir mal!“ Und so schritten sie gemeinsam Ernst Alberts Bildungspfad durch die kleine reiche eingebildete Stadt ab.
„Morgen! Setzen! Tafeln raus! Diktat!” So oder so ähnlich fing das alles an. Einschulung im Jahre Neunzehnhundertdreiundsechzig. Kein Spaß! Gewiß hatten die Lehrer Namen. Einer hieß Obermüller. Einer hieß Söll. Waren sie alt damals, oder sahen sie nur fürchterlich alt aus? Die Erinnerung an den letzten Krieg lastete schwer auf ihren Schultern. Und viele von ihnen hatten etwas in diesem Krieg verloren. Ein Auge, einen Arm, ein Bein, die Geduld, den Respekt vor ihren Zöglingen, die Fähigkeit zu lieben. In der Ecke stehen, Schläge mit dem Rohrstock auf die Handinnenflächen, Nachsitzen, Strafarbeiten: alltägliche Verziehungsmittelchen. Einmal in der Woche gab es einen halben Liter Milch und nach den Sommerferien wurde erwartet, daß man seine Geranie preiswürdig zum Blühen gebracht hatte. In der Pause prügelte man sich wegen geklauter Köllnflockenbilder und wenn man sich zu Hause beklagte, wurde der Satz: „Dann wehr Dich halt!“ gerne auch mal mit einer kleinen Ohrfeige dekoriert. Der Schulweg führte durch eine Schrebergartenkolonie. Die Kirschen aus Nachbars Garten schmeckten lecker. Wenn man schnell wegrennen konnte. Keine Narben. Jede Zeit hat ihre Unwägbarkeiten.
Die folgende Zeit war jene, die den sogenannten Arbeiterkindern den Zugang zur höheren Bildung ermöglichen sollte. Die erste Große Koalition. Plisch und Plum! Willy ante portas! Latein! Agricola puellam ad cenam expectat! Sagen des klassischen Altertums! Mondlandung! Aus Cassius Clay wird Muhammad Ali! Der Wecker klingelt morgens um vier! Haare wachsen mit Bedeutung, sogar in tiefster Provinz! Dann geht es schnell. Vater kann nicht mehr und die Welt ist Feind! Schülerzeitung! Versammlungen! SMV! Stufensprecher! Machine Gun! Vietnam! Südafrika! Chile! Wo liegt das bitte? Hier, vor der Haustür, auf dem Schulhof! Macht kaputt, aber nicht was Euch kaputt macht, sondern einfach so! Oder Euch selbst! Die Lehrer hatten Namen. Der gütige Lins mit der Vokabelbeule. Der eitle Göpfrich. Der aufrechte Reichrath. Der verpeilte Brüstle. Der wehrlose Krucker aka die „Sandale“. „Zimpel“ Zimmermann, der geographische Leuchturm. Berger, der fummelnde Zeichenlehrer. Und der kleine große Generalist -“Ist Ihnen Georg Elser ein Begriff? Lesen Sie Hesse besser nicht!”- und Kommunikator Lehn. „Lassen sie uns heute über die Berechtigung des Tyrannenmordes sprechen! Und, meine Herren, über den Widerspruch zwischen Ihren großen Worten und Ihrer Angst, von der Sie keine Ahnung haben können! Über Jamben und den Daktylus informieren Sie sich bitte selbstständig!” Die Lehranstalt war Herrn Alexander von Humboldt gewidmet. Keine Narben. Ganz im Gegenteil. Irgendwann rutschte der Notenschnitt in den Keller. Ursache? Auch das Zusatzstudium an der Lebensuniversität auf der anderen Seite der Straße.
“Costa del Sol” war der Name des Tempels. Der erste Billardtisch. Stierkampfplakate an den Wänden. Die Einführung des Schwänzens. „Ruppaner Bier: unerreicht! Zwei gsoffe, drei geseicht!“ Die Lehrer hießen nun Pepe, Emilio, Andres und Tonio. Unser Lernziel: una hara oder una ganja! Halbe oder Kleines! Tortilla! Gambas! Boquerones! Fisseplatte! „Des Zeugs hier, des kann doch kei Sau fresse.“ Alle tun es aber! Grundlagen schaffen! Und es ist billig! Drei Ebenen hatte das Kellerlokal! Jede Ebene hatte einen eigenen Stammtisch! Unten DKP, SDAJ und MSB Spartacus am großen runden Tisch. Eine Ebene höher die neuen Sekten und der Eleve Ernst Albert: KBW, KPD/ML. Und der eine kleine Tisch ganz oben im Eck: die KPD/AO. Beschimpfungen fliegen hin und her. „Revisionist! Spalter! Trotzkist! Volksfeind! Säckel! Du schuldescht mir noch ä Halbe!“ Nach dem dritten bis sechsten Bier: „Die Holländer, wosch, die honnt halt me Spielkultur, aber mir honnt de Müller. So einfach isch des! Pepe kumm, etz mach mal die Kischte an!“ Pepe steht auf. Zwei Minuten bis zum Anpfiff. Rechts oben auf dem Regalbrett der altehrwürdige Fernsehapparat. Eine karierte Decke schützt ihn vor dem Rauch der allgegenwärtigen ROTHHÄNDLE. Diese zwei Minuten benötigt das Gerät, um warm zu werden. Rudi Michels Begrüßungsworte retten den kleinen, stolzen Spanier vor der Steinigung. Weniger ungeduldige Naturen hatten die zwei Minuten genutzt. Man stand vor der Türe und prüfte die Qualität der unlängst in der kleinen, damals noch armen, aber auch schon sehr eingebildeten Stadt, eingetroffenen indischen Heilkräuter. „Du, Lugi? Hosch Du noch ä Busfahrkärtle für en Filter!“ Tief einatmen! “Roll another one!” Anpfiff! Weltmeister! Dann zurück über die Straße. Die paar Monate schaffen wir auch noch, gell! Genau! Abitur bestanden! Schnitt: Drei zu Null! Archibald hatte aufmerksam gelauscht. Er war erleichtert. Irgendwas geht immer! Fortsetzung folgt!