Beiträge vom März, 2020

Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Neun

Dienstag, 31. März 2020 19:39

engel19

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Abbes Bein revisited. Beleidigte Komfortzone. Dankbarkeit.

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Die Nacht war außerordentlich unruhig gewesen. Schlaf in Scheiben. Da das Zimmer Zwonullsieben unterm Dach lag, mit Fenster gen Westen, prasselte ohne Unterlaß der nächtliche Regensturm gegen die Behausung. Dazu die Reste des gestrigen Tages in den Klamotten und im Fell. Die lange Wanderung. Die Heimsuchungen des Lenz. Etliche Eindrücke. Pochende Fragen. Der Zweifel. Das Hadern. Archibald Mahler, offenen Auges im Dämmerschlaf auf seiner Fensterbank, sah wie der Regen immer neue Tropfengemälde auf das Fensterglas pinselte, wild, wütend fast, sich stetig verändernd. Aufschwellend, abschwellend das Prasseln, Trommeln, Rütteln der Böen und der Bär wanderte in Trance durch seine rotierenden Nachtgedanken. Ach ja, man hatte gestern versprochen noch etwas zu erklären. Die Sache mit dem „Ehrenwerten“. Die Angelegenheit Dankbarkeit. Vernehmet: und so liegt Archibald Mahler wieder auf dem Brandplatz in der Kleinen häßlichen Stadt, auf der Straße, auf heißem Asphalt, in jenem Sommer vor fünfzehn Jahren, zerrissen, geteilt, sein rechtes Bein Meter und Meter von ihm entfernt, ohne Schmerzen zwar war er, doch sehr verwirrt. Warum und woher das Ganze? Wer wollte ihm Böses? Wo waren die Täter, die Verursacher seiner momentan außerordentlich fragwürdigen Situation? Heranwankt kommt ein Mime, man packt  ihn, den Bären am Schlafittchen, ein ihm inzwischen wohlbekannter Zugriff, damals ein erstes Mal gespürt. Was geschah gleich wieder vergessen in dieser großen Verwirrtheit. Zurückkehrte Erinnerung in jenem Moment, als er sich wiederfindet auf einem Nachttisch, sein abbes Bein in Griffweite an seine Hüfte gelehnt, jedoch noch nicht wieder mit ihm verbunden, neben ihm schnarcht ein Trunkener und den Bären durchströmt neben der Hitze des überwundenen Schreckens und der Sommernacht ein ihm bis daher unbekanntes Gefühl. Und er tauft es Dankbarkeit und murmelt: „Das war schon aller Ehren wert, daß der Aufrechtgeher mich nicht hat auf der Gass’ hat liegenlassen. Oder gar (ihn schaudert nachträglich) entsorgt hat.“ Und da die Dankbarkeit für einen Bären kein ein – oder ausschaltbares Eintagsfliegengefühl ist, darf sich bis zum heutigen Tag der Aufrechtgeher Ernst Albert mit dem Titel „Ehrenwerter“ schmücken. Hat der Mahler entschieden und muß dabei an so etliche der hiesigen Aufrechtgeher denken, die das Schicksal seit fünfundsiebzig Jahren des Friedens mehr als pfleglich behandelt hat, die aber jede Begegnung mit dem Unglück als eine Art persönliche Beleidigung betrachten, als seien sie aufs ewige Glück abonniert in ihrer Komfortzone. Sie fühlen sich unverwundbar und sind davon überzeugt sie seien als Krönchen der Evolution von allen Zumutungen existentieller Umbrüche und daraus resultierender Mühen und Überlebenskämpfe befreit. Dankbarkeit ist ihnen so fern wie der Nächste und wesentliche Äußerung ist ihnen die tägliche Forderung, unbegründet meist und bei nicht sofort erfolgter Erfüllung der Ansprüche vom beleidigten Flunsch oder, schlimmer noch, blindem Umsichschlagen begleitet. Man mag nichts lernen aus dem Mißratenen, Unglückseligem, Einbrüchen, Veränderungen kurz: dem Anderen. Die Abwesenheit aller Götter jenseits der Götzen des grandiosen Selbst. So  waren des Archibald Mahler Denkpfade in der stürmischen Nacht. Der schlaflose Ehrenwerte aber las und las.

Stunden später und entschieden leichter saß man auf einer Bank am Waldesrand. Blickte hinab ins Tal der Nidder. Die Sonne schien auf den Pelz. Ein Regenschirm spannte sich über das – kein Wunder – noch schläfrige Haupt. Man war nach Laudes und Frühstück aufgebrochen. Weite Wege waren heute nicht vorgesehen. Der gestrige Tag steckte noch in den Oberschenkeln. Doch die erfuhren auch heute kaum Schonung. Man war aufgebrochen bei optimistischen Wolkenlücken. Nach wenigen Minuten war man jedoch, ordentlich durchnäßt, gezwungen umzukehren und einen in der Teeküche vergessenen Regenschirm zu organisieren. Zweiter Versuch nun, dies kennt man ja, und seit einer Stunde schleppt man den Regenschirm durch eine sonnenbeschienene Landschaft. Von der Vorfrühlingssonne erfreut saß man schweigend und – ja! – dankbar dafür hier und heute hier und genauso eben hier und jetzt sein zu dürfen, denn Mutter Natur hatte einen Regenbogen über das Tal gezaubert. Schön!

Das Schweigen währte eine lange Weile. Man dankte sogar für die Langeweile. Sie war warm und begehrte nichts anderes als da zu sein. Dann begann der Bär, in sich hineinblickend, aber doch wie aus sich herausgetreten leise vor sich hin zu sprechen. Mit wem redete er? Mit sich selbst? Jedenfalls nicht mit dem Ehrenwerten Ernst Albert. Mit wem dann?

„Mahler, mein Bär, sag an, betest Du etwa?“

„Ich danke nach … ähem … denke nach übers Danken. Denke ich!”

„Ist es dies nicht, was ich frage?“

„Dieser Regenbogen!“

„Ich wußte nicht, daß Bären religiöse Erlebnisse haben!“

„Wenn sie aber wollen! Und: Ist das nicht ein grundsätzliches Bedürfnis? Da brauch man an nichts zu glauben!“

„Auch nicht an Deine vielfältigen Bärengötter?“

„Ich weiß nicht, ob oder wieviele es gibt, aber das ist Wurst wie Lachs. Was in mir ist, gibt es auch draußen in der Welt. Oder sonst wo. Schließlich müssen wir ja irgend jemand Dank sagen für unser Leben, auch dann, wenn zufälligerweise niemand da ist, der diesen Dank entgegennehmen könnte!“

„Halt! Das kenne ich doch!“

„Das haben Sie mir heute Nacht vorgelesen, weil ich mehrmals  ‘Danke’ gemurmelt habe im Traum!“

„Ach ja. Der Imre Kertesz! Dossier K.“

„Das habe ich mir gemerkt!“

„Und erinnerst Du Dich noch, was Du davor gerufen hast diese Nacht? ‚Vergiß nicht mein Abbes Bein! Vergiß es nicht!’ Herzzerreißend laut!“

„Das habe ich vergessen!“

„Komm mit, ich zeig Dir was!“

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engel20

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Acht

Freitag, 27. März 2020 14:09

engel17

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Auf einer Bank sinnend keine voreiligen Schlüsse

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Beginnen wir heute mit einem Kalenderspruch: „Die Orientierung verlieren, heißt ankommen!“ Vielleicht ist dieser Spruch einfach oberflächlich und dämlich, wie etliche jener in den letzten Jahren zu Büchern – schlimmer noch: Ratgebern – aufgequollenen Kalendersprüche, welche die Sachbuchhitlisten dummbatzig verstopfen. Eventuell aber lauert hinter den Worten ein weiterführender Gedanke. Doch dies ist aber hier im Wald – genauer am Rand des endlich durchquerten Forst – nicht die Frage. Archibald Mahler saß auf dieser Bank, von der man von einer kleinen Anhöhe aus das Kloster Engelthal überblicken konnte. Er war erleichtert, rechtschaffen müde, aber gewillt auf dem Wegeplan, den ihnen am Morgen eine der freundlichen Schwestern mitgegeben hatte, nachzuvollziehen, wo und wie sie denn in den letzten sechs Stunden gegangen waren. Es war nicht wirklich festzustellen, stellte man fest, da die auf der Karte eingezeichneten Pfade teils einfach nicht begehbar waren, der Ehrenwerte Ernst Albert also abkürzte, kreuz lief, quer stolperte gelegentlich, der richtigen Himmelsrichtung stets gewahr, sich so mancher Abhang, jäher Grund oder überschwemmte Wiese in den Weg stellte, mühselig war es, aber den Trapper und Pfadfinder in ihm wachhaltend. Jedoch als der Himmel sich zusehends verfinsterte und im dichten Wald die letzten Reste des Tageslichts dahinschwanden, befiel den Wanderbeutelträger, und dies geschieht eher selten, ein Gefühl tiefer Verunsicherung, reden wir von Angst. Und hier schweigen wir von Talenten, Fähigkeiten, gegeben oder erworben, auf die man gerne stolz, manchmal sogar eitel damit prahlt. Ein längeres Innehalten, eine Bitte und so saß der Ernst Albert nun ebenso auf jener Bank, erleichtert und seltsam dankbar. Dem, da die Veperglocke erst in einer Stunde läuten würde, galt es nachzuspüren.

Archibald Mahler steckte noch die Predigt des Lenz in den Knochen und Hirnwindungen, das Erschrecken über die Unbedingtheit, den Wahn, die Ausweglosigkeit, den Fanatismus des getriebenen Poeten. Er dachte, daß vielleicht ein Fanatismus des Antifanatismus ein probates Gegenmittel und seelenberuhigend sein könnte. Und vielleicht sollte man die Demutsleiter nicht in einem solchen Affenzahn erklimmen. Gewiß, es ist gut und richtig sich zum Dienen rufen zu lassen, einem Dienen, welches einem Gegenüber gilt und nicht den eigenen alten Wunden, den tatsächlich oder eingebildet erlittenen Verletzungen und den daraus seltsamerweise abgeleiteten Ansprüche an die Welt. Ja zu Discretio, Stabilitas und Oboedientia, aber mit ABER. Der Bär dachte an Erzählungen seiner Vorfahren aus dem fernen Wyoming oder dem wilden Kamschatka, da die dortigen Ureinwohner den Bison, den Wapiti, den Biber und den Bär, den sie um zu überleben töten mußten, um Verzeihung baten und nach der Jagd ihren Göttern Opfer des Dankes brachten. Ein Art archaischer, dem „modernen“ Aufrechtgeher vollkommen fremder Gehorsam gegenüber bewährten, freundlichen und lebenserhaltenden Vereinbarungen, oft nur noch geringschätzig Regeln genannt. Es schadet nicht die Tatzen zu kreuzen vor dem Biß ins blutige Fleisch. Und dem Mahler auf der Bank über dem Kloster schwante, daß nichts schlimmer ist als die Trägheit des Ungehorsams, geboren aus der Sucht sich täglich selbst rühmen zu müssen und sogar in der Askese oder der Hingabe an die Fleischlosigkeit aller Art die Maßlosigkeit und Einzigartigkeit zu suchen. Ist es nicht ganz anders begibt man ernsthaft sich auf eine Suche? Bleibt man nicht, solange man unterwegs ist immer Anfänger, Lernender, Zweifler, Haderer, einer der sich der Anfechtung stellt? Ein Glauben ist wohl keine Christbaumkugel, kein Handel, kein Ablaß, sondern stets und immer wieder – und da stockte ihm der Atem – der große KONTROLLVERLUST, den es anzunehmen gilt. Weia! Fürchtet Euch nicht?

Die große innere Erregung des Bären war dem Ehrenwerten Ernst Albert („Warum eigentlich immer dieses Ehrenwert? Und auch noch groß geschrieben? Der Säzzer. „Davon später!“ sagt der Bär) nicht verborgen geblieben. Behutsam packte er den kleinen Genossen und setzte in in seine Jackentasche, da der Wanderbeutel nach Käsebrötcheneinpackpapier müffelte und einem hadernden Pilger auch ein etwas persönlicherer Transport zusteht.

„Herr Ernst Albert?“

„Ja?“

„Glauben Sie, daß wir manchmal, das was wir tun, gar nicht selber tun?“

„Du meinst, es gibt etwas, was uns ab und an lenkt und führt?“

„So ähnlich hätte ich es fragen wollen!“

„Ich weiß es nicht, möglich.“

„Also mich würde das nicht stören!“

Die Vesperglocke rief und es begann zu schütten, aber richtig.

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engel18

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Sieben

Mittwoch, 25. März 2020 21:49

engel15

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Querung. Verstopfung. Erschütterung.

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Sie mußten die Landstraße von Altenstadt nach Florstadt queren, die Forst und Pilgerweg zerschnitt. Wie schnell man doch das unangenehme Gesumse und Gebrause der Blechkisten vergessen kann. Wenige beschleunigte Schritte später umfing die zwei Amateurpilger wieder die tiefe Stille des Waldes. Jedoch kam man, so schien es zumindest Archibald Mahler, nicht so recht voran. Ursache dafür diesmal nicht der Zustand der Wege, sondern der – sagen wir – küchenpsychologisch angehauchte Spieltrieb des Ehrenwerten Ernst Albert. Der ergiebige Regen der letzten Tage und Wochen hatte etliche neue Rinnsale, Bäche und Tümpel geschaffen, einige davon jedoch gestaut, gebremst, verstopft von Blattwerk, Ästen, Steinen oder aufgeschwemmten Erdreich. Ein paar feste Tritte oder mit einem dicken Stock dazwischen gefahren und das Wasser floß, suchte sich neue Wege oder spendete einem träge dahin fließenden Rinnsal neue Kraft, neuen Schwung. Ein altes Spiel, welches Ernst Albert als Bub mit Vater und Bruder auf zahlreichen Bergwanderungen gerne spielte. Staudämme bauen und sie dann – Einziger Zweck der Mühe? – wieder zerstören und sehen, wie das freigesetzte Wasser glucksend und brausend die Verstopfung beendet. Erst Einsperren und daraufhin den Befreier geben. Nicht des Bären Ding. Er mahnte und trieb an.

Es häuften sich nun Hinweistafeln, oft schon bemoost, brüchig, die Beschriftung kaum noch zu lesen, die auf das Ziel der Wanderung hinwiesen. Plötzlich und unerwartet linkerhand eine Abzweigung, im Sommer angesichts dichten Blattwerks wäre man vielleicht daran vorbeigelaufen und siehe: die Wallfahrtskirche Maria Sternbach. Es heißt dieses Gotteshaus befände sich auf einer Wüstung. Das Dorf Sternbach, dessen Mitte einst die Kirche war, sei „wüst gefallen“! Nie gehört den Begriff, jedoch sehr beeindruckend und also notiert.

Man stand vor verschlossener Pforte, umrundete das der Jungfrau Maria geweihte und zur Wallfahrtskirche beförderte Kleinod, fand sich vor einem Außenaltar nebst Außenkanzel wieder, beides während der jährlichen Wallfahrten intensiv genutzt. Und da dem Bären noch die heute morgen geträumt und / oder gehörte Erzählung des Georg Büchner durch den Kopp schwirrte, nahm er flugs auf der Kanzel Platz und es schoß ihm nochmal zwischen die aufmerksamen Ohren das Folgende:

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Oberlin war im Zimmer; Lenz kam heiter auf ihn zu und sagte ihm, er möge wohl einmal predigen. – »Sind Sie Theologe?«- »Ja!« – »Gut, nächsten Sonntag.«

Lenz ging vergnügt auf sein Zimmer. Er dachte auf einen Text zum Predigen und verfiel in Sinnen, und seine Nächte wurden ruhig. Der Sonntagmorgen kam, es war Tauwetter eingefallen. Vorüberstreifende Wolken, Blau dazwischen. Die Kirche lag neben am Berg hinauf, auf einem Vorsprung; der Kirchhof drum herum. Lenz stand oben, wie die Glocke läutete und die Kirchengänger, die Weiber und Mädchen in ihrer ernsten schwarzen Tracht, das weiße gefaltete Schnupftuch auf dem Gesangbuch und den Rosmarinzweig, von den verschiedenen Seiten die schmalen Pfade zwischen den Felsen herauf- und herabkamen. Ein Sonnenblick lag manchmal über dem Tal, die laue Luft regte sich langsam, die Landschaft schwamm im Duft, fernes Geläute – es war, als löste sich alles in eine harmonische Welle auf.

Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles Moos unter den schwarzen Kreuzen; ein verspäteter Rosenstrauch lehnte an der Kirchhofmauer, verspätete Blumen dazu unter dem Moos hervor; manchmal Sonne, dann wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Menschenstimmen begegneten sich im reinen hellen Klang; ein Eindruck als schaue man in reines, durchsichtiges Bergwasser. Der Gesang verhallte, Lenz sprach. Er war schüchtern; unter den Tönen hatte sein Starrkrampf sich ganz gelegt, sein ganzer Schmerz wachte jetzt auf und legte sich in sein Herz. Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach einfach mit den Leuten; sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müd’ geweinte Augen Schlaf und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte. Er war fester geworden, wie er schloß – da fingen die Stimmen wieder an:

Laß in mir die heilgen Schmerzen,

Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;

Leiden sei all mein Gewinst,

Leiden sei mein Gottesdienst.

Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz, erschütterte ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen, unnennbaren Schmerz davon. Jetzt ein anderes Sein: göttliche, zuckende Lippen bückten sich über ihm nieder und sogen sich an seine Lippen; er ging auf sein einsames Zimmer. Er war allein, allein!

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Nein, nein, nicht allein, nicht leiden, hadern, selbstkasteien. Der Bär riß sich los von der Erzählung, erschüttert, voller Fragen. Man hob ihn vorsichtig von der Kanzel, sprach Beruhigendes. „Lassen Sie uns aufbrechen, Meister Albert. In drei Stunden läuten die Glocken zur Vesper, ich habe Bärenhunger, gehen wir und an den Staudämmen vorbei. Und blicken Sie noch oben!“ Das antwortete der Bär.

Am Himmel zogen sich schwere Wolken zusammen, kräftige Böen griffen beherzt in die Kronen der kahlen Bäume und vereinzelt schnitten Lichtfinger durch die grauen Gebilde über ihren Köpfen. Archibald Mahler, Pilger in Anfechtung, betete der Träger des Wanderbeutels möge die rechte Orientierung besitzen.

engel16

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Sechs

Montag, 23. März 2020 21:49

engel13

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Tiefe Wege. Schweigende Fährten.

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Schweres Gerät, Traktoren, Harvester, Unimogs hatten die meisten Wege in Morast verwandelt. Abseits der Wege, manchmal auch darauf, lagen kreuz und quer etliche in den letzten zwei schrecklich trockenen Sommern geschwächte Bäume, welche einer der letzten Winterstürme zu Fall gebracht hatte. Abkürzungen querwaldein, zeitvespernde Umwege, Improvisation abseits der Pläne ohne die Orientierung zu verlieren, die Anforderung dieses Tages, die gerne angenommen wurde. Allüberall Spuren, Fährten, Hinterlassenschaften der Winterernte, Zeugnisse einer intensiven Bewirtschaftung des Forstes, aber auch notwendiger Aufräumarbeiten. Stämme, Stapel, numeriert, farblich gekennzeichnet, zum Abtransport bereit. Doch wo waren die dazugehörigen Aufrechtgeher? Woher kamen die Spuren? Wohin führten die Fährten? Einmal aus der Ferne der Schrei einer Motorsäge, die auf härteres Holz trifft. Sonst tiefe nieselnde Stille. Und – fast schon unnötig dies zu erwähnen – kein Wanderer, der in den letzten zwei Stunden den Weg der zwei Pilger gekreuzt hätte.

Ein Apfel reicht nur eine gewisse Zeit – wir reden nicht vom Apfel der Erkenntnis, in den man beißt, um nichts zu begreifen – nein von der letzten Rast, der letzten Energiezufuhr. Also hieß man diese geheimnisvolle Hütte am Wegesrand, dieses erste Zeugnis der Anwesenheit menschlichen Lebens, freudig willkommen. Das mitgenommene Käsebrötchen rief – wie schmeckt’s doch unter freiem Himmel, auch wenn er wolkenverhangen – und der Durst nach Gänsewein. Krambambuli!

Archibald Mahler war auf Anhieb fasziniert von dem maroden, offenbar aufgegebenen Häuschen. Er dachte darüber nach, ob man diese bescheidene Behausung zu einer Art Kloster für einen Eremitenbär in spiritueller Lehre umwidmen könne. Ein eigenes Stift, ein eigener noch zu gründender Orden. Die Archibaldenser? Oder die Brüderschaft der Waldmahler?

Der Ehrenwerte Ernst Albert hatte sich, weilst der Bär seine zukünftige Wirk- und Nachdenkstätte einer ersten Prüfung unterzog – ins Gebüsch verkrümelt sein Wasser abzuschlagen. Er rezitierte dabei einen einfachen Vierzeiler.

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Schilt nicht den Jäger

Der sonntags nicht zur Kirche geht.

Ein frommer Blick zum Himmel

Ist besser als ein falsch’ Gebet.

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Diese Worte waren eingebrannt gewesen in eine Holztafel, welche über einem Ecktisch in einem kleinen Cafe – eine Art Schlauch – hing. Das Cafe befand sich schräg gegenüber des Münsters Unserer lieben Frau in der Ansehnlichen Stadt am See, in welcher der Albert aufgewachsen war. Ab der Obersekunda besuchte er diesen Ort mit einigen Schulkameraden – es waren stets die selben Missetäter – immer dann, wenn sie dem Unterricht fernblieben, um – dies waren die Zeiten – gegen die Sinnleere desselben zu protestieren. Manchmal aber auch nur aus purer Faulheit, mangelnder Vorbereitung oder einer generellen Abneigung gegen die naturwissenschaftlichen Fächer. Jedenfalls verzehrte man dort Butterbrezeln oder – wenn es das Budget zuließ – ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. (Beides von legendärer Qualität und im darauf folgenden Leben in dieser Qualität nie wieder genossen.) Dabei sprach man den Reim und machte sich seine Botschaft zu eigen.

Archibald Mahler hatte Stellung bezogen auf einem mobilen Hochsitz, der neben der windschiefen Hütte abgestellt worden war, goutierte von dort oben den Reim in Sachen Jagd und Gebet und sah sich schon als jagender Mönch oder betender Jäger, Narziß und Goldmund in einer Person, Welt und Himmel, wollte bleiben, in der festen Annahme GEFUNDEN zu haben. Zudem war er müde und überhaupt kein Freund von schlammigen Umleitungen. Doch er hatte – mal wieder – die Rechnung ohne die Umtriebigkeit seines Begleiters gemacht. „Es ist nicht der Ort, es ist die Wanderung, die uns begründet!“, vernahm er aus dem sich teilenden Gebüsch und da Mahler des Ernst Alberts Pilgerherz lauten Schlag sich nähern hörte und dieses auch – es sei eingestanden – liebte, fügte er sich ins Unvermeidliche. Allerdings unter der Bedingung, daß der Müsliriegel aus dem Wanderbeutel der seine ist. „Wen auch immer es trifft, daß er sein Haus verlasse!“ Sprach’s, sprang in den Beutel und begann zu kauen. Mmmmh!

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engel14


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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Fünf

Sonntag, 22. März 2020 18:12

engel11

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Mehr Stille, ein Träumen, das Gehen

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Es ist ein Ding mit der Stille. Ob herbei gesehnt, gefaßt gar und an ihr gerochen, unvermittelt bricht sie ein in den zappeligen, unruhigen Geist und beißt zu. Aufrecht sitzt der eben noch im Schoße einer von Lichterpest und Blechkistengebrumm unbehelligten Nacht Schlafende aufrecht auf dem Bette, erwacht vom eigenen Herzschlag, der gegen die Innenwände seines Schädels pocht und es rauscht wie tausend Toilettenspülungen das Blut durch seine Ohren, die gewohnt an ständiges Wummern, Plappern, Klacken und Heulen, ob der plötzlichen Ruhe irritiert nun nach innen hin lauschen. Inwendiger Schrecken.

So ging es vor allem dem Ehrenwerten Ernst Albert in der ersten Nacht in Engelthal, wobei – dies muß erwähnt werden – die doch etwas in die Jahre gekommene preiswerte Schaumstoffmatratze und der unter all den Zumutungen und Misthäufen gealterte und gebeugte Rücken das Ihrige dazu beitrugen. Aber vielleicht waren die altehrwürdigen Schlafunterlagen auch Reminiszenz und strenger Wink in Richtung alter Klosterzellen, da man auf nacktem Holz nächtigte und so dem zur Einkehr bereiten Sünder stündlich vor Augen führte, daß nur die Gnade des Herrn ihn am Leben hält und Leiden Gottesdienst sei und er von Anfang an und jederzeit … Doch halt, so weit sind wir noch lange nicht!

Der Bär aber segelte derweil gelassen durch – wenn auch etwas wirre – Träume. Den 9. März ging Mahler durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen verschneit, taumelnd er, fiel und lag mit der Nase im Schnee. Eines Pfarrers Kutsche brachte ihn, schlotternd doch gerettet in ein Dorf namens Waldbach, er nahm Quartier, erwachte, von Träumen und Nöten gepeinigt, badete nächtens im Brunnen des Dorfes – ihm träumte vom Bronnen im Innenhof des Pfarrhauses – schrie, paddelte, erwachte im nächsten Traum, geläutert, gestärkt knieend neben dem Lager eines fiebrigen Mädchens, das geritten vom Wahn und gepiesackt von Dämonen und er mit zittriger Hand legte der Maid, die er nun selber war, kühlende Kräuter auf die in Sorge und Schmerz gekrauste Stirne, faltete seine, fremde Hände, als der Pfarrer, Oberle genannt, nein O Berlin, Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin, riesige Arenen, leergefegt, der Lütten Stan verloren im Mittelkreis eine Seifenblase jonglierend, hämisch grinsend auf seine zerbrochene Rolex blickend, an Stelle der Eckfahnen ragten riesige angenagte Karotten aus dem fauligen Grün, in den Netzen der Tore hingen Lachse zum Trocknen aufgereiht und der Pfarrer, Oberlin so war sein Name, packte Archibald Mahler, den Träumer, am Schlafittchen und sprach: „Sind Sie Theologe?“ „Ja!“ „Gut nächsten Samstag!“ „Ja, predigen werde ich!“ So schrie der Bär tonlos und schlotterte, als habe ihn ein Rudel von Wölfen eingekreist, ihm den letzten Lachs zu entreißen, der in mehrere Lagen Klopapier eingeschlagen war und er erwachte.

Der Ehrenwerte Ernst Albert hatte nach dem Bär gegriffen – er wußte nicht um seinen Zustand – und ihn in den bereit gelegten Wanderbeutel gepackt. Da lag er nun neben Apfel, Wasserflasche, Käsebrötchen und Müsliriegel, einem Buch über Leben und Wirken im Kloster sowie dem “Lenz” von Georg Büchner. Und folgender Reim aus diesem Werk fiel ihm aus der Seite 11 (Reclamausgabe) direkt vor seine Buchstabennase:

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Lass in mir die heil`gen Schmerzen

Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;

Leiden sei all mein Gewinst,

Leiden sei mein Gottesdienst.

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Es dauerte bis Mahler die Gespinste abgeschüttelt hatte. Was ihm half war das Gleichmaß der Schritte des Mannes, der den Beutel mit ihm, dem Proviant und den Worten durch den Wald trug. Welch Balsam für die Sinne, fern allen Gelärmes der Aufrechtgeher nur gelegentlich einen Vogelruf, den Wind in den Wipfeln und die Schritte hören zu dürfen. Der Fuß tritt auf, hebt sich, tritt auf, unzählige Mal, unterbrochen bestenfalls vom Schlurpsen und Patsch, wenn der Fuß in eine Pfütze trat oder sich aus Schlamm löste. (Zum Zustand der Wege in diesen nassen Tagen später mehr.) Der Atem das Metronom. So kehrt man gerne zurück in den Tag und findet sich plötzlich in dieser Kiste, Klause, Zelle, meterhoch über dem Waldboden schaukelnd? War er nun schon ein oblatus, gar im Zustand des seipsos offere, ein monachos in der eremos, ein gyrovagentus, der seine Bleibe gefunden? Kurz und gut fragte Mahler bzw irgendwas sprach aus ihm: „Sind wir schon am Ziel unserer Pilgerschaft? Ist dies die Zelle des Eremiten Archibald, des Hingegebenen?“

Wenn es denn so einfach wäre. Ernst Albert saß auf einem Baumstamm, blickte auf den schaukelnden Bär, biß in einen Apfel und blätterte in dem Buch über Mönche und Regeln, welches er im Zimmer Zwohundertsieben vorgefunden hatte. „Mahler, das wußte ich gar nicht wieviel verschiedene Orden und Stifte es gibt!“ Und er begann zu lesen: “Basilianer, Basialaner, Aleppiner der Melkiten, Augustiner, Augustiner Chorherren, Prämonstratenser, Kreuzherren, Dominikaner, Johanniter, Trinitarier, Merzedarier, Serviten, Alexianer, Barmherzige Brüder, Piaristen, Assumptionisten, Benediktiner, Zisterzienser, Trappisten, OLivetaner, Kamaldulenzer, Franziskaner, Kapuziner, Terziaren, Silvestriner, Kallumbrosamer, Jesuiten und …!“ Mit einem lauten und drängenden „Weia!“ unterbrach Mahler des naseweisen Ernst Albert Vorlesung. „Du hast recht! Lassen wir uns Zeit!“, die Antwort. Man brach auf und der Bär, glücklich aus seiner voreiligen Klausur befreit, war froh die ganze Aufmerksamkeit wieder dem Gleichmaß der Schritte widmen zu können.

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engel12

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Vier

Samstag, 21. März 2020 7:02

engel10

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Die Stille vor Entscheidungen oder lechts und rinks

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Gelegentlich spricht oder schreibt wer von einer Stille, welche man mit Händen greifen könne. Da saß Archibald Mahler wieder auf seiner Fensterbank und blickte hinaus, hinein in die aufziehende Dämmerung und da er versuchte eine die Stille belästigende Fliege zu verscheuchen, die ihnen von einer der Kuhstallungen wohl hinterher geflogen war – Ha! Eine Agentin der Misthäufen, dachte er noch – so also eine Tatze hob, durch die Luft fuhr, hielt er schon die Stille in seiner linken Tatze. Leicht war sie, fluffig, wenn dieser ungenaue Ausdruck erlaubt sei, fluffig, warm, weich. Vorsichtig führte er seine Tatze Richtung Nase. Konzentriert, wie dies Bärenart, atmete er ein, ordnete, was in ihn einströmte und ihm war als öffnete sich die Schädeldecke und entließ sein Denkorgan mit einem sachten Plopp Richtung Zimmerdecke, wo es über ihm schwebte wie ein gefurchter Luftballon.

Wo war derweilen der Zweite im Bunde? Der Ehrenwerte Herr Ernst Albert hatte sich vorsichtigen Fußes und wortkarg – bei Begegnungen dem Gegenüber nur freundlich zunicken! – erst ins Refektorium, später in einen Speisesaal (war kleiner als das Wort vorgaukeln möge) Platz genommen. Alles neu, ungewohnt und er versuchte einfach nur nichts zu wissen, nicht zu urteilen, lediglich vorhanden zu sein, zu atmen, zu kauen, zuzuhören, gelegentlich die Hände zu falten. Geh! Horche!

Zurück auf Zimmer Zwohundertsieben. Ein Hirn schwebte weiterhin unter der Zimmerdecke, umkreist von einer Fliege wie unsere Erde vom einem Mond oder Satelliten. Draußen hatte sich die Finsternis herab gesenkt, genauso finster wie die Stille stille war. Der Bär auf der Fensterbank vermißte nichts. Nicht den Lärm, nicht die Lichter der Kleinen häßlichen Stadt und auch nicht seine Nachdenkkiste im Kopp. Als altes Plappermaul aber – wie der Herr so das Gescherr! – fragte er sich, ob er davon sprechen oder lieber schweigen solle und wie er so herumirrte in sich, tastete, abwägte, jedoch ganz gewiß und tief fühlte, daß hinter diesen Mauern etwas existierte, schwebte, atmete, was ihm gut tat und auch in der Lage war Misthäufen – bis auf eine kleine einsame Agentenfliege – fernzuhalten, da öffnete sich die Zimmertüre. Ernst Albert kehrte zurück, Archibald Mahler erschrak und mit einem satten Schlurps fiel sein Hirn wieder in das Aufbewahrungskasterl zurück, hinterließ dabei einen Satz auf Archibald Mahlers Zunge, den aber auszusprechen er sich hütete, selbst gegenüber dem Rückkehrer.

Jener saß schweigend über seinen Fotoapparat gebeugt, die Bilder des Tages zu betrachten. Der Bär blickte ihm über die Schulter. Das Bild mit diesem kuriosen Verkehrsschild. „Engelthal! Schöner Name! Vor allem das altehrwürdige H!“, murmelte Mahler. Aber wo lang nun? Rechts oder links, lechts oder rinks? Wurst oder Lachs, man kommt stets an, wenn man denn will. Das dachte er auch noch, war sich aber nicht ganz so sicher, ob diese Erkenntnis in den nächsten Tagen Bestand haben sollte. Draußen hing ein dicker Vollmond am Himmel. Und dies ist nicht dem Kitsch oder einer pilchrigen Dramaturgie dieser Geschichte geschuldet, sondern ist eine Wahrheit und kann in jedem Kalender unter März Zweitausendzwanzig bewahrheitet werden.

So glitt der erste Tag der Reise ruhig in die Nacht, Ernst Albert lag im Bett, machte sich mit den umfassenden Regelwerk dieses Ortes vertraut und Archibald Mahler, Bär auf eines Fensters Bank im Kloster Engelthal kaute noch ein wenig auf dem ihn angefallen habenden Satz herum. Er schmeckte gut.

„Die Toren haben ihr Herz auf der Zunge, die Weisen haben ihre Zunge im Herzen!“

Da gab es ja einiges zu lernen, zu begreifen, zuzuhören. Gehen und Horchen. Morgen würde er … ach was … vielleicht aber … Werde ich eine Oblate? … Kann man anders … als … leben? … Gute Nacht, Mahler … Gute Nacht, Albert … WEIA!

(Schnarchgeräusche. Black)

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engel09

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Drei

Donnerstag, 19. März 2020 17:38

engel05

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Ja, wo laufen sie denn?

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Extra muros ein paar Gehöfte, großzügige Stallungen, Koppeln, Weiden. Das ganze Land ringsherum scheint intensiv und fleißig bewirtschaftet. Man hört die Kühe – es ist Nachmittag – nach dem Melker rufen, der dieser Tage wohl eher ein Computer ist, vereinzelt wiehert ein Pferd nach Gesellschaft und über den Köpfen kreischen lüsternde Bussarde, Lenz unter den Schwingen. Seltsam jedoch, weit und breit keine Aufrechtgeher zu sehen. Die Gebäude gewiß bewohnt, besorgt, gepflegt, aufgeräumt, alles an seinem Platz. Doch kein Homo – na ja – sapiens. Lediglich die wachenden Hunde rennen auf die zwei Pilger los, kläffend bis an die Grenze ihres Grundstücks hetzen sie, verharren dort knurrend und / oder schwanzwedelnd lassen sie die Wanderer anstandslos ihres Weges ziehen. Man wollte lediglich gewarnt haben. Gläserne Stille.

Die Sonne hat inzwischen die letzten Regenwolken verscheucht unter gütiger Mithilfe eines lauen Windes. Doch die plötzliche Frühlingswärme nach einem Winter („Hä?“ Der Säzzer) überrascht immer wieder Leib und Geist von Mensch und Tier und so entschloß man sich zu einer kleinen Rast. Auf den durchweichten Feldern am Wegesrand lagen dutzende riesengroße Strohräder, gülden die strahlende Sonne spiegelnd. Mahler nahm Platz und ließ die Wärme in seinen Pelz eindringen. Ein Winter, zwar neben der Spur und fast schon Karikatur, aber ohne Winterschlaf und voller Misthäufen, das macht müde und so schlief er ein und es träumte ihn von der Kleinen häßlichen Stadt in Mittelhessen. Alle Geschäfte, die Kinos, der Musentempel, sogar die Buchläden waren geschlossen, die Straßen leer und eine himmlisch unheimliche Stille lag über dem ansonsten so sinnfrei hektischen Ort, und so überraschend klirrte die plötzliche Ruhe in ihm, daß er fürchterlich erschrak und erwachte. Es vibrierte in seinem Kopf als schlügen tausend Hummeln aufeinander ein und sogleich berichtete er dem Ehrenwerten Ernst Albert von seinen Nachtmahren, im dem Fall von seinen wilden Tagmahren.

„Tja, Freund, wohl so eine Art Wunschtraum des Ruhesuchenden. Dies sei es, was wir in den nächsten Tagen anstreben wollen, in uns, um uns und um uns herum. Ruhe und Frieden. Nur mit mir und mit sich selbst müssen Sie auskommen!“ So sprach der Ernst Albert. „Wenn es weiter nichts ist!“, dachte der Bär und schüttelte mit einem gewaltigen „Weia!“ den blödsinnigen Traum von sich ab. Ah, wie köstlich die Frühlingsluft den Rachen hinab in die geweiteten Lungen fiel. „Hier ist gut! Hier mag man verweilen!“ Dachte er auch noch.

Man brach auf Richtung Unterkunft und Ernst Albert, angeregt durch seines Bären wirren Traum, dozierte – was er ja gelegentlich gerne macht – über eine zutiefst erschöpfte Gesellschaft, die sich in ihren Hamsterrädern und Selbstbestätigungsritualen immer mehr und auswegsloser verliert, die unfähig ist innezuhalten, wie eine Blechbüchsenarmee den Berg hinunterrollt und trotzdem weiterhin fest daran glaubt, sich auf dem nie endenden Weg noch OBEN zu befinden. Und er rezitierte vor sich hin:

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Reiten, reiten, reiten durch den Tag, durch die

Nacht, durch den Tag.

Reiten, reiten, reiten.

Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht

So groß. Es gibt keine Berge mehr, kaum einen

Baum. Nichts wagt aufzustehen. Fremde Hütten

Hocken durstig an versumpften Brunnen. Nirgends

Ein Turm. Und immer das gleiche Bild. Man hat

Zwei Augen zuviel.

…..

„Das gefällt mir aber sehr gut! Ist das so eine Art Misthaufenlyrik?“, sagte und fragte Archibald Mahler.

„Rilke!“ antwortete Ernst Albert, auf einmal außerordentlich einsilbig.

Man erreichte die erste Pforte, säuberte die Schuhe in besagter Pfütze, eine Glocke schlug hell. Das und die Vesper riefen.

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engel06

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Zwei

Dienstag, 17. März 2020 18:37

engel03

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Hinter Mauern in Freiheit

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Und so standen sie vor diesem schönen alten Haus. Mehrfach geteilte Fenster, umrahmt von grünen, altehrwürdigen Fensterläden, ein Giebeldach, welches auf den Gebäude zu sitzen schien wie ein kecker Hut. Es hatte aufgehört zu regnen, und obwohl noch alles triefte, tropfte, klamme Luft vor sich hin nieselte, der Himmel so tief hing, daß man Woyzecks Nagel hätte hineinschlagen können, eine  stille Freundlichkeit konnte man dem Bau nicht absprechen. Dennoch zögerten die zwei Pilger einzutreten. Eine Woche hinter Mauern? Doch was hilft alles Zaudern!

Die Pforte, die erste Pforte wohlgemerkt war durchschritten. Linkerhand eine große Pfütze, die verlehmten Schuhe darin oberflächlich zu reinigen. Die zweite Pforte, hinter der sich ein getäfelter Vorraum befand. Wenige Schritte, eine schwere Eichentüre, Pforte drei und eine Klingel! Man öffnete. Wies an. „Hier die Schlüssel. Sie können kommen und gehen, wie und wann Sie wollen, sind aber herzlich eingeladen unseren Tagesablauf zu teilen!“ „Hier werden Sie sitzen während der Mahlzeiten!“ „Da wäre die Teeküche! Schreiben Sie auf, was Sie entnehmen!“ „In unserem Salon finden Sie eine Leihbibliothek.“ Und es gab sogar einen Fahrstuhl. In diesem ehrwürdigen Gebäude. In solch einem Komplex. „Sie sind hier frei zu tun, was Ihnen gut tut! Herzlich willkommen!“ Ein Faltblatt mit Regeln wurde überreicht. Grundtenor: Rücksicht nehmen und Aufmerksamkeit.

Zwei Stockwerk höher, unterm Dach das Zimmer. Klar, einfach, zweckdienlich eingerichtet, wie man so sagt. Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, sogar Dusche. Sauber ist gar kein Ausdruck. Archibald Mahler hat Platz genommen auf dem Fensterbrett, Ernst Albert packt die Reisetasche aus. Man schweigt, dem Ort angemessen. Beiden ist als wäre beim Betreten des Geländes eine Türe hinter ihnen zugefallen, die Misthäufen aller Art den Zutritt verwehrt.

Der Bär blickt aus dem Fenster. Was sieht er? Einen Garten. Gewächshäuser. Unterkünfte der hier Beschäftigten. Alte Bäume. Die Mauer, die das ganze Areal umfaßt. Dahinter Pferdekoppeln plus ihre Bewohner. Bis über die Hufe im Morast stehen sie, aber heiter Heu kauend. Streuobstwiesen. Felder mit Wintergetreide. Ein Hügel. Der Waldrand und darüber der Himmel, der sich anschickt aufzureißen. Scheue Sonnenstrahlen wischen über Mahlers Nase. Er blinzelt. Er  muß niesen. „Gesundheit! Gehen wir raus, Herr Bär?“ So ward’s getan.

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engel04

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Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Eins

Dienstag, 17. März 2020 13:44

(Vorbemerkung: Als die Dinge geschahen, von denen im folgenden und mehreren Kapiteln berichtet werden soll, wußte keiner der Beteiligten, nein, man ahnte es in diesem Ausmaß nicht einmal oder wollte es nicht wahrhaben, was da geschehen sollte heute und die letzten Tage. Reden, schreiben wir also von Ahnungen. Und einem Vielleicht.)

engel01

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Ein Misthaufen am Rande des Aufbruchs

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Es hatte sich Mist angehäuft die letzten Wochen und Monate. Täglich, nächtens, penetrant gleichmäßig. Schuldfragen im Zusammenhang mit dem rasanten Wachstum des stinkenden Hügels bleiben obsolet, viele waren am Aufhäufen beteiligt und ganz gewiß auch jener, der hier die Größe des dampfenden Mahnmals klagend besingt.

Wie es auch sei, es stank so einiges gen Himmel, wie der Volksmund dies knapp und präzise ausdrückt, als der Ehrenwerte Herr Ernst Albert wieder zu einer seiner Reisen aufbrach, die ohne die Begleitung seines Erzähl – und Zuhörgenossen Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz so möglich, aber nicht sinnvoll wären.

Man hatte in der Kleinen häßlichen Stadt in Mittelhessen einen Bummelzug bestiegen, der – keine laaaaange Fahrt, so mindestens war es vorgesehen – die zwei Reisenden ein Stündchen Richtung Süden bringen sollte. Doch erst wollte die Lokomotive nicht, dann schwächelte eine Weiche und auch ein entgegenkommender Zug – man war eingleisig unterwegs – schien etwas unentschlossen, was seine fahrplanmäßige Fahrt betrifft. Zeit aus dem Fenster zu blicken. Land unter allenthalben. Schwere Wolken hingen graudüster über überschwemmten Wiesen, Rinnsale rauschten jenseits des Tempolimits durch die Auen und gebärdeten sich als Wildbäche und stetig trommelten monoton und ausdauernd dicke Regentropfen gegen die Scheiben des auf freier Strecke rastenden Zuges. Es zog sich hin die Zeit wie zerkauter Gummi, doch irgendwann war das Ziel erreicht. Halt, der angestrebte, na ja: Bahnhof.

Zwei Bauarbeiter, die sich am Ausgang des winzigen Haltepunkts als eine Art Denkmal postiert hatten, wiesen auf Nachfrage – Ei Gude, wie! – den Weg, zwanzig Minuten zu Fuß hieß es, mit dem mitgeschleppten Gepäck, obwohl spartanisch karg gepackt, wohl etwas länger. Dann grüßte das Murmeltier namens Misthaufen. Die Körper der Pilger müde, vom Betrachten des Stinkmals oder von den Ausdünstungen desselben höchstselbst, wer weiß es, jedenfalls die erste Bank am Wegesrand willkommen. Ein weiter Blick auf das unter Wasser stehende Auengebiet der Nidder und im Rücken der Rastenden die Kirchturmspitze des Zieles konnte erahnt, ein winziger Teil davon sogar erblickt werden.

Der Meister Ernst Albert teilte dem Bären die Spielregeln für die bevorstehende Woche mit. Kein Telefon, keine digitale Post, kein Fernsehen, kein Radio und noch nicht mal die heiß geliebten Zeitungen. Archibald Mahler nickte zustimmend, milde lächelnd über den Aufrechtgeher, der ihm Verzicht predigt und verzichtete auf sein obligatorisches „Weia!“. Ihm war nicht bange. Dem Ehrenwerten Ernst Albert flatterte schon das ein oder andere Hosenbein. Vor ihnen nun ein Weg, den sie zu gehen hatten. Der Wind frischte auf, neues Naß drohte, Zeit aufzubrechen. Eine Suche begann.

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engel02

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Vom Notwendigen und den Angeblichkeiten / 9

Donnerstag, 5. März 2020 16:44

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Das Lob des Gewöhnlichen führt zum zeitweiligen Schweigen

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Nach einem Amen ist ein bisserl Schweigen ganz sinnreich. Also ziehen sich die zwei Gefährten auf dem Signet ihrer Nachsinnseite in sich und ihre Ambivalenzen zurück, fechten da keinen Zwist aus wortlos, aber lauschen hinein in den ganzen Weltenmüll, der in die Beiden einströmte und da sie nicht mit einer seine eigene Großartigkeit und Singularität feiernden „Feierwohl“ ausgestattet sind, sondern ihr selbst verordneter Auftrag das Schauen der Welt war, ist und sein wird inklusive offenstehender Türen, muß man das mit zeitweiligen Absens und trotz eventuell möglichen Bedeutungsverlust tragen können ohne zu murren. Theoretisch. Um die Zerrissenheit vor der Nase einschätzen zu können, ist man gut beraten, hinter die eigene Stirn zu blicken und dies gelingt wortlos besser als dauerplaudernd. Vielleicht arbeitet ein jeder der zwei Gefährten an seiner Erzählung, an einem Monolog, den man sich – wir werden davon hören und lesen – irgendwann gegenseitig vorliest. Der eine mag heißen: „Warum ich lernte einen angedrohten Weltuntergang zu lieben!“, der andere könnte den Titel tragen: „Ich möchte einer von der Stange sein!“ So hören wir – Prolog zur Pause – mal hinein.

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Der Reim zum Tag / IX a

Ich möchte einer von der Stange sein

Neben vielen gleichen Hemden hängen

Ich möchte gar nicht so besonders sein

Und täglich an die Spitze drängen

Ich möchte nicht wie ALLE ALLE dieses EINE sein

Und lemminggleich mich singularisieren

Ich will nicht täglich vor dem Egoschrein

Meine Wertigkeit erregiert durchdeklinieren

UFF

Bin nicht mein eigner Puff

Ich möchte eine Kirche

vielleicht auch nur ein Dach

Als wäre ich der Weisheit letzter Schrei

Mich gibt’s millionenfach

Noch

Doch nicht in lauter Horde

Nein gerne auch allein

Und doch gemeinsam sein

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(Aus Gründen der Parität und eingeforderter Diversität ein Blick auf’s andere Vorwort.)

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Der Reim zum Tag / IX b

Welt geht unter

Froh und munter

Sitze ich

Am Nierentisch

Ein toter Fisch

Gelegentlich

Und bohr in meiner Nase

Die depressive Phase

Dann wird getanzt

Grell laut japanisch

Gestern war’s noch Tokio

Zukunft Zukunft froh nur froh

Keine Bremse Gaspedal

Manisch manisch scheißegal

Zerissen

Vermissen wird die Welt mich nicht

Doch ich die Welt

Vielleicht

Schon morgen

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(Zum Sendeschluß hören wir alle die Nationalhymne! Pssst! Sie dürfen sitzenbleiben!)

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