In diesem gestohlenen Moment mein Leben
Mittwoch, 3. Mai 2017 9:26
Der Brandplatz liegt zu Füßen eines alten Schlosses
Am südlichen Ende wachsen hinter rostigen Gittern Gingko und Rhododendren
Ich wurde da gefunden, mein Abbes Bein lag neben mir
Zusammengenäht wurde ich an den Rändern des Thüringer Waldes
Liegengelassen dort in Sonneberg als Mauern fielen
Aufgenommen von einem verlassenen Mann tief im Osten
Gepflegt und gehegt und aufgebaut zwischen alten Büchern
Später eingepackt und gereist ohne Fahrkarte nach Mittelhessen
Über mich tobte ein versöhnungsloser Streit hinweg und ich lag zerrissen eine ganze Nacht, falls ich mich erinnere
In der Frühe umrundete meine Reste kreischend die Müllabfuhr
Gießen ist ein Drecksloch schon immer gewesen
Gießen wurde erbaut in einer sumpfigen Mulde, faulig stinkende Abwasserkanäle sind seine Adern
Gießen ist die hohle Mittelmäßigkeit in allem, wie ein Dichter die Stadt preist und kein Friede in den Hütten
Gießen besitzt einen Musentempel, das Dönerdreieck, Suppenwürfel und Minderwertigkeitskomplexe
Es ist ungeheuer schwer das die Siedlung durchfließende Gewässer zu finden, jedoch es existiert
An den Ufern der Lahn stehen Menschen von Freundlichkeit wie auch in etlichen Häusern und Straßen spricht man miteinander
Ich lag auf dem Brandplatz, entzwei, wurde aufgehoben, geschleppt in eine Kneipe, später in eine Wohnung getragen
Unter einem kleinen Tisch saß ich neben dem Bett eines einsamen Mannes
Mein Abbes Bein lehnte an meinem Torso und die Wartezeit staubte mich ein, der Silberrücken unfreiwillig
Über traurige Tage hinüber und viele laute Nächte lang hörte ich Lieder, immer wieder, immer wieder und neu
Ich hörte den Sänger näseln, krächzen, raunen, zwirbeln tausend Reime über und von der Welt
Von Geistern, und der Liebe, und der Einsamkeit, und dem Tod, den Vergeblichkeiten
Düster, laut, krakelig, fremd und so nah, Gesänge von den ewigen alten Zeiten im Jetzt, welches eben
Zigarettenrauch rötete meine Augen
Gelegentlich saß ich auf dem Tisch, neben mir ein kleiner Band, dicht beschrieben mit Haikus
Ich lernte an den Buchstaben zu riechen und die Buchstaben begannen zu sprechen
Ich hieß sie willkommen
In meinen Träumen ritt ich hungrig und einbeinig auf einem mit Preiselbeeren gefüllten Lachs den Honigfluß hinauf bis zur Quelle
Ich plante dort den Staub von meinem Fell zu waschen, mein verlassenes Herz niederzulegen und Lieder voller Haikus zu krächzen
In jenem heißen Sommer, als sich die Menschen Fahnen ins Gesicht malten, führte der einsame Mann, der neben meinem Tisch schlief, eine Frau nach Hause
Als die Frau mich erblickte, fragte sie den bald nicht mehr einsamen Mann nach meiner Geschichte …
Thema: Planetenwellen | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth