Wolziger Seelegien / Drei / Stille
Sonntag, 3. August 2014 17:20
Als das hellblaue Tretboot an Fahrt verlor, dann zum Stillstand kam, die Antriebswalze ein letztes Gluckern von sich gegeben hatte, wurde es still, so still, daß Archibald Mahler vernehmen konnte, wie das erste Tageslicht auf die spiegelglatte Wasseroberfläche traf. Die Morgensonne schob sich leise flimmernd über das Schilf und kündigte einen sehr heißen Tag an. Bachstelzen huschten vorbei, mit kurzen, gehackten Flügelstößen. Eher sah es aus, sie sprängen von einem unsichtbaren Luftpolster zum nächsten, als daß sie flögen. Der Wind war eingeschlafen und das Schilf reckte schweigend seine Büschel ins wachsende Blau. Archibald Mahler hatte das Gefühl die Stille greifen zu können. An diesem Morgen war ihm, als gäbe es ihn gar nicht, sondern er sei einzig und allein Bestandteil.
„Scheiß Stille!“ Herr Ernst Albert fluchte gerne und wenn dann laut.
„Pst, lieber Herr Aufrechtgeher!“
„Au! Entschuldigung!“
Ernst Alberts Nacht war zermürbend gewesen. Finster, mondlos, kein Lüftchen regte sich, kein Blatt rührte sich, die Vögel schliefen tief und fest und alles was summte und surrte auch: absolute Stille und tiefste Dunkelheit. Und als sei die Haut eines Aufrechtgehers eine semi-permeable Membran, versuchte die ganze in Ernst Albert abgelagerte Unruhe, Wut, Unzufriedenheit, das ganze Unerledigte, Unmögliche, Unerklärliche der letzten Wochen und Monate nach außen zu dringen, schmiß den hilflos dieser ungewohnten Stille ausgesetzten Leib von rechts nach links, von links nach rechts, Schweiß schoß literweise aus den Poren. Licht an. Licht aus. Licht an. Klospülung rauscht. Fernseher kräht. Aus. Zwei Seiten gelesen. Nichts verstanden. Sinnlos. Mehr Schweiß und mürbe Knochen. Der Rücken knarzt und knackt. Allein der tiefen Stille, die draußen vor dem Fliegengitter liegt, gelingt es nicht durch die Membran in das Innere des Ernst Albert zu gelangen. Erst als der Morgen graute und die Vögel zu ihrem Begrüßungsgesang anhoben, fand er etwas Schlaf.
Archibald Mahler focht dies nicht weiter an. Sein Winterschlaf war lang genug gewesen und überhaupt, wann und ob dieser Bär überhaupt schläft, wer weiß das schon.
Nächtens hatte Ernst Albert versucht einige Worte niederzuschreiben:
Diese Stille:
Ruhiges Rauschen / Kein Wind / Kein Vogel / Einmal nur der Dackel des Dauerkämpfers….
„Oh Weia! Dauerkämpfer statt Dauercamper!“ Ein Seufzer und er zog sich ein wiederholtes Mal die Decke über die Ohren, um diese gnadenlose Stille nicht hören zu müssen. Umsonst, der Spielmannszug, der durch seine Hirnwindungen marschierte, gab keine Ruhe. Als Ernst Albert um 7 Uhr der Wecker aus dem kurzen Schlaf riß – er hatte am Vorabend Herrn Mahler versprochen ihn auf den See hinaus zu ‚trampeln’, schließlich hat der Aufrechtgeher die langen Beine – sah er, das seinem Notat ein Postscriptum beigefügt wurde.
PS: Dauerkämpfer bis die / Bitterstoffe hineinsinken in / die letzten Winkel / des / überlastet getriebenen / Herzmuskels.
Archibald Mahlers Laune war prächtig. Zum einen lebte es sich als Bestandteil wesentlich angenehmer denn als Betrachter oder Bewerter und zum anderen liebte er es gelegentlich den einen oder anderen Satz in den Poesiealben Ernst Alberts zu hinterlegen. Und auf einen See hinaus getrampelt zu werden, ist auch nicht ohne. Entschlossen beendete er die göttliche Stille.
„Herr Albert?“
„Ich höre!“
„Sie haben schon über eine halbe Stunde lang nicht gesprochen!“
„Ja! Und?“
„Sehr fein! Das Wasser zu treten, schadet Ihnen nicht. Also: an Land geschwind. Erstens Hunger und dann holen wir das Fahrrad ab!“
„Gleich! So ein blaues Blau aber auch!“
Thema: Wolziger Seelegien | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth