Wolziger Seelegien / Zwei / Ankunft

wolz_03a

Als Archibald Mahler am westlichen Ortsrand von Görsdorf hinter einem Fliegengitter saß, auf ein mehrere Fußballfelder großes Seegrundstück blickte – inklusive eines kleinen Hafens, diverser Boote, vier Bänke am schilfbestandenen Ufer des Wolziger Sees, inklusive kreisender Schwarzmilane, Rotmilane, prächtiger Seerosenfelder, dreier wartender Liegestühle, patroullierender Schwäne, eines in den See ragenden Holzstegs (von Enten gründlich bekotet), kreischender Kormorane, flieghüpfender Bachstelzen, Bleßhühnern ungezählten, springender Fische – also auf ein Seegrundstück blickte, welches ihnen in den nächsten Tagen meist zur alleinigen Nutzung zur Verfügung stehen würde, da fragte Herr Archibald Mahler den Herrn Ernst Albert, was ihn nun an diesen Ort geführt habe.

Ein glücklicher Zufall sei es gewesen, antwortete Ernst Albert, aber er wolle hier auch jemanden besuchen, um das Erinnern wieder zu lernen. „So! Aha!“, erwiderte Mahler und erblickte in dem kleinen, zum mehreren Fußballfeldern großen Grundstück gehörigen Hafen, ein hellblaues Tretboot.

Ernst Alberts Zustand hatte innert der letzten Stunde eine schlagartige Besserung erfahren, jene Art von sich plötzlich einstellender Scheinheilung, welche dem Kranken widerfährt, wenn er im Behandlungszimmer des Arztes Platz genommen und in sich den heftigen Drang spürt, aufzustehen und zu gehen, da er sich in diesem Moment weitgehend genesen fühlt.

Archibald Mahler versank im Schauen und ihm war gänzlich unelegisch. Wirklichkeit und Ideal schienen hinter seinem Fliegengitter eins zu sein.

Ernst Albert hatte vor Stundenfrist durch einige – wie er später erfuhr – irrtümlicherweise offen gelassene Türen, die Storkower Bahnhofsgaststätte betreten. Heftiger, schwülfeuchter Bier-, Rauch- und Schweißgeruch schlug ihm entgegen. Am Tresen hing erschöpft die Fahne Deutschlands. Posttriumphal. Eine Wirtin, die dieses Lokalloch offensichtlich seit guten 10 Jahren nicht mehr verlassen hatte und ihr Sohn – ein überdimensioniertes, bierbäuchiges, über 40 jähriges Heavy Metal – Kid, mit Wacken – T – Shirt und Adiletten bekleidet – traten ihm entgegen. Alberts Frage nach einem Telefonbuch oder der Rufnummer eines örtlichen Taxis wurde – nachdem ein erstes Abwehrkläffen verklungen war – freundlichst beantwortet. Als dann der Chauffeur der Taxe, welche nach einer raschen brandenburgischen halben Stunde den Gast abgeholt hatte, auf die Bitte, er möge doch morgen früh noch mal am Zielort vorbeirollen, um den Gast zurück nach Storkow zu befördern, er plane dort ein Fahrrad zu mieten, antwortete: „Jetz kieken Se erstmal, ob da in Görsdorf nich een Bus fährt. Ick brauch Ihnen ja morgen nich schon wieder fuffzehn Euros aussem Portemanee ziehen. Wir ham et alle ja nich so dicke, wa?“, da hatte Ernst Albert das Gefühl, daß der Engel, an den er sich hier erinnern wollte, schon mal kurz um die Ecke geschaut hat.

„Herr Albert, wohin gehen Sie jetzt?“

„Ich gehe essen!“

Essen gehen, jawoll. Zwokommafünf Kilometer entlang der Strasse oder dreikommafünf Kilometer durch den Kiefernwald bis zur nächsten Kneipe. Und wieder zurück.

„Guten Appetit und verlaufen Sie sich nicht, Herr Albert! Ich fahre morgen das hellblaue Tretboot!“

Ernst Albert setzte seine Mütze auf und seinen aufgekratzt müden Körper in Bewegung und Archibald Mahler dachte sich – endlich allein – noch ein Gedicht aus:

Am fremden See:

Ich betrachte mein eigenes Fell / Wie das eines Fremden. / Die Stechmücken können mir nichts anhaben. / Ich kratze den, / Der neben mir sitzt.

Und darüber schlief er ein und verpaßte einen Sonnenuntergang.

wolz_04

Tags »

Autor: Christian Lugerth
Datum: Freitag, 1. August 2014 14:30
Trackback: Trackback-URL Themengebiet: Wolziger Seelegien

Feed zum Beitrag: RSS 2.0 Kommentare und Pings geschlossen.

Keine weiteren Kommentare möglich.