Selbst Odonkor rennt zu langsam, um die Vergangenheit einzuholen! (Walden Fifteen)

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Was jetzt genau in diesem Brief stand? Das geht niemanden etwas an, außer die direkt Beteiligten. Noch nicht einmal die neugierige Erinnerung des Herrn Archibald Mahler hat ein Anrecht auf den kompletten Text der recht intimen und ausschweifenden Äußerungen von Frau Kraushaar. Erwähnenswert jedoch die Konsequenzen, welche Tankred „Tanke“ Florschütz aus der Lektüre des Schriftstückes zog. Er kaufte sich eine Zugfahrkarte. Und er packte Erich Schlackerbein am sogenannten Schlafittchen, legte ihn in einen Schuhkarton (natürlich mit Luftlöchern) und fuhr los. Wie oft er auf der knapp fünfstündigen Reise besagten Brief las – vorwärts, rückwärts, seitwärts – bleibt sein Geheimnis, doch da jedes Lesen mit dem Verzehr einer Büchse Bier gekoppelt war und sein Zustand beim Erreichen des Zieles ein eher schwankender war, ist davon auszugehen, daß er den Text inzwischen auswendig aufsagen konnte. „Herzlich Willkommen in der Universitätsstadt Gießen!“ Zwei schnelle Kaffee und ein Matschbrötchen mit Fleisch von Herrn Donalds Burgerbraterei und runter in die kleine häßliche Stadt. Und ein alter Ossi weiß, was eine kleine häßliche Stadt ist! Tanke fühlte sich auf Anhieb zu Hause. Offensichtlich hatten hier Architekten gewirkt, welche man einst wegen übertriebenen Formalismus aus der ehemaligen Ex-DDR ausgewiesen hatte.

„Mensch, Tanke!“ „Tschäki?“ Zu ihren Füßen floß die Lahn. Der Biergarten füllte sich. In zwei Stunden mußte Deutschland gegen Polen gewinnen. Man hatte schließlich ein Sommermärchen zu hyperventilieren. Das Gespräch war zäh. Solche Gespräche sind immer zäh. Der Versuch eine Zeitreise zu unternehmen, schlägt meist fehl. Schakkeline ging es nicht gut. Wer bei Tante Hedwig Unterschlupf suchen mußte, die vor 30 Jahren über Gießen ins Gelobte Land ausreisen durfte, der hatte offensichtlich nicht das Große Los gezogen. Oder es verloren? Oder weggeworfen? Man weiß es nicht. Der Jaguarfahrer vom November Neunundachtzig war wieder in den Hafen der Ehe zurückgefahren. Danach gab es noch einen Mercedes-, einen BMW- und zwei Toyotafahrer. Und der letzte der Toyatafahrer hatte wohl herzbrecherische Fähigkeiten besessen. Tanke spürte keinerlei Genugtuung. Im Gegenteil. Das war der Moment, in dem Erich Schlackerbein, Bär im Karton mit Luftlöchern, nicht mehr Herr seines Schicksals war. Falls er das bis jetzt jemals gewesen war. „Gucke mal, Tschäki. Wie de damols einfach so abgehaun bist, da haste was nüsch ganz fertsch gemocht. Hier! Der Kleene Kerle hat mir oft sehr geholfn. Sein linkes Bein schlackert zwar, aber er hat Klasse. Pass auf Dich auf, Mädel! Schade!“ Ein Schuhkarton und der letzte Bär von Sonneberg wechselten den Besitzer. An der rechten Außenlinie raste Odonkor entlang und der Rest war Neuville. Tankred Florschütz stand auf. Tschäki blieb sitzen. Ein Minicar fuhr Tanke zum Bahnhof. „Schland! Schland!“ Das konnte ihm heute gestohlen bleiben. Und nicht nur heute. In der Hauptstadt wartete jemand auf ihn.

Last Dance. Die hupende und beflaggte Feiermeute hatte sich verlaufen, eine heiße Nacht neigte sich ihrem Ende zu, ein Hauch von Morgenlicht zeigte sich über dem Brandplatz in der kleinen häßlichen Stadt, wo Jacqueline Kraushaar auf den Stufen des Alten Schlosses saß, einen Schuhkarton auf ihren Knien, einen kleinen Stoffbären in der Hand. „Im Osten geht die Sonne auf, im Westen geht sie unter! Iss doch so? Mensch gugge mal, Dein Bein. Da hab ich aber nur die halbe Arbeit geleistet. Scheiße, gelle! Schau mich nich so vorwurfsvoll an! Quatsch! Wasse immer alle nur wollen? Das hält doch. Hier! Bitte! Oh, mein Gott!“ Aua! Auch über dem Wald zu Füßen des Schiffenbergs ging die Sonne auf und Archibald Mahler, Recherchebär, hatte das sichere Gefühl, daß es nun mit der Vergangenheitsaufarbeitung auch gut sei. Den alten Schmerz hatte er noch in bester Erinnerung. Aber er spürte ihn nicht mehr. Er kratzte sich am Pöter. Und tiefer! Links! Das Bein war dran! Keine Beschwerden! Er sah, wie Schakkeline die Marktlaubengasse entlang ging. Wann? Gestern? Oder heute?

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Freitag, 30. Juli 2010 18:06
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