Gewisse Türen sollte man besser nicht öffnen, aber das ist leicht dahergesagt! (Walden Fourteen)
Donnerstag, 29. Juli 2010 17:46
Das Telefon klingelte. Tankred Florschütz hob ab. Es meldete sich ein Gregor Giesser. Er rufe an im Auftrag eines Herrn Oskar Derbrunnen. Der habe vor eine neue Partei zu gründen. Eigentlich eine uralte Partei, aber darum ginge es jetzt nicht. Jedenfalls brauche man die Blauen Bände, komplett und alle anderen Veröffentlichungen, die sich direkt oder indirekt auf die Theorien des Trierer Rauschebarts Karl M. bezögen. Weil, man habe vor in der neuen Parteizentrale eine kleine Bibliothek einzurichten. Und die Büros der Parteispitze benötigten auch den ein oder anderen Regalmeter Theorieliteratur. Und man habe gehört, er habe da doch noch einiges im Keller. Die eigenen Bestände habe man damals – sicher ist sicher – ja vollständig entsorgt und geschreddert. Florschütz legte auf. Das klang nach einer finanziell attraktiven Entrümpelung. Am nächsten Tag fuhr ein Kleinlaster vor und der Speicher wurde geleert. Bücher bewahrt man nicht im Keller auf. Man überreichte einen Umschlag, gut gefüllt. „Mensch Genosse, is ja wie beider Mofija!“ Der Übergeber der Scheine reagierte humorlos, schmiß die Fahrertür ins Schloß und bog ein in die Schönhauser-Allee, Richtung Rosa-Luxemburg-Platz. Neben der Kasse des Antiquariats „Florschütz & Buchstaben / An- und Verkauf von Lesbarem“ saß Erich Schlackerbein, inzwischen siebzehn Jahre alt und freute sich. Weil er sich immer freute, wenn sein Chef sich freute. Und der hatte allen Grund zur Freude. Fette Einnahme heute und in wenigen Minuten sollte die Fußballweltmeisterschaft beginnen. Im eigenen Land.
Seit nun elf Jahren saß Tankred Florschütz in seinem kleinen Zweiraumantiquariat in der Kuglerstraße im Hauptstadtbezirk Prenzelberg. Wie war er hier gelandet? Er hatte fleißig gesammelt, damals in Sonneberg, er und sein treuer kleiner Begleiter. Er hatte gearbeitet und gearbeitet, Buch auf Buch gehortet, gelegentlich wieder dem Teufel Alkohol die Hand gereicht, Fenster geputzt, Briefe ausgetragen, Hunde spazieren geführt und wollte eigentlich nur eines: vergessen. Es gelang ihm. Und dann wieder nicht. Frauen? Es gab mal eine Nacht. Mal mit jener. Mal mit der. Sonst die Hand. Doch an den Mauern der kleinen Stadt klebte Schakkeline. Unnachgiebig. Er suchte nicht wirklich nach ihr, all die Jahre. Die meisten Tage waren leicht. Aber als man ihm erzählte, man habe sie in der Hauptstadt gesehen? Als wäre kein Tag ins Land gezogen: der Schmerz. Wie er Tage später im Ostbahnhof aus dem Zug stieg, beschimpfte er sich als hirnrissigen, sentimentalen Idioten. Stundenlang lief er durch die große Stadt, fluchte, lachte, trank. Dann stand er vor diesem kleinen Laden im Prenzlauer Berg. Er las: ‘Antiquariat aus Altersgründen preiswert abzugeben. Nur an Ossis!’. Dann ging alles ganz schnell. Und er war Ladenbesitzer. „Gelle, Herr Schlackerbein! Mir zwee Beede! Unternehmer!” Verschweigen wir nicht: ‘de Tschäki’ hat den Laden kein einziges Mal betreten.
“Sollsch! Oder sollsch nüsch?” Seit einigen Tagen trug Tankred einen Brief mit sich herum. Manchmal vergaß er ihn, doch – der Wahrheit die Ehre – manchmal brannte der Umschlag Löcher in die Innentasche seiner alten Lederjacke. Die Absenderin des Schriftstückes war eine gewisse Jacqueline Kraushaar, offensichtlich inzwischen ohne Dorst. Wie lange war das alles her? Aber die Erinnerung hat die Eigenschaft aus altem Filmmaterial binnen weniger Sekunden eine veritable Liveübertragung herbei zu zaubern. “Sollsch?” Erich Schlackerbein zuckte mit den Schultern. Mit so etwas kannte er sich nicht aus und war also auch nicht in der Lage Herrn Tankred Florschütz einen Tip zu geben. „Horche mal her, mein Scheener! Ich mochs!“ Der Buchhändler nestelte seine Lesebrille aus der Hemdtasche, riß den Umschlag auf und so begann der Brief: „Lieber Tanke! Ich lebe noch! Ich sitze hier bei meiner Tante Hedwig in Gießen auf dem Balkon, trinke Kaffee, dazu gibt es Halloren-Kugeln und ich denke, daß ich….“ Mein Gott! Give me strength. Und am Fuße des Schiffenbergs blickte Archibald Mahler, zur Zeit Autobiographiebär, hinaus in seinen Wald und wunderte sich über nichts mehr. Die Wundertüte Erinnerung!
Thema: Walden | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth