Ja, was laufen die denn?
Eva Pelagia und Ernst Albert waren nach dem Frühstück aufgebrochen. „Willst Du mitkommen?“ Archibald hatte dankend abgelehnt. Er bot sich an, den heute morgen auf den Balkon gestellten Liegestuhl zu bewachen. Und die Süßwaren müssen bei diesen Temperaturen auch betreut werden, am besten kauend. Immer noch keine Kondensstreifen am Firmament, die göttliche Ruhe hielt an, nur unten am Fluß rannten die Zweibeiner auf und ab. Noch oder schon wieder? Archibalds Zunge schob eine mit Weincreme gefüllte Schokoladenkugel von der rechten in die linke Backe – das kann schon mal bis zu einer Minute dauern – und in dieser Zeit dachte er darüber nach, warum die Gattung der Aufrechtgeher – natürlich nur jene von ihnen, welche in wohlhabenden Gegenden leben – die einzige auf Gottes Erdboden ist, die rennt und rast, und das freiwillig. Abgesehen von jungen Hunden vielleicht. Der Rest der Welt rennt und rast meist nur aus zwei Anlässen: Jagd oder Flucht. Vielleicht noch Armut. Jäger aber scheinen diese Läufer – im übrigen meist Weibchen – nicht zu sein, sonst wären sie nicht so bunt angezogen, daß man sie schon aus zwei Kilometer Entfernung herankeuchen sieht. Und die meisten von ihnen tragen zudem so viel Speck an ihrem Körper mit sich herum, daß sie wahrscheinlich nicht mal eine dreibeinige Schildkröte einholen würden. Und arm scheinen sie nun ganz und gar nicht zu sein. Doch wovor flüchten sie dann? Es gibt schlaue Zweibeiner – zumindest denken sie, daß sie es wären – die behaupten, wenn man von irgendwo weg renne, dann renne man zu sich selbst. Was immer das auch sei, das „Selbst“. Darüber wollte sich Archibald heute nun wahrlich keine Gedanken machen. Wenn noch drei zu vertilgende Schokokugeln in der Schachtel warten, sollte man sich auf diese konzentrieren. Die Thesen überzüchteter Wohlstandsknaben mögen heute bitte Gegenstand ihrer eigenen und sich selbst beweihräuchernden Denke und Existenzquengelei bleiben. Hugh! Was Archibald aber noch auffiel: die Läufer schienen blind zu sein oder sie wirkten, als rannten sie durch einen Tunnel, in dem sie wahrscheinlich nichts wahrnahmen als ihren eigenen Atem und den knirschenden Rhythmus ihrer Füße. Vielleicht läßt sie eben diese Selbstvergewisserung, die im Gleichmaß verborgen liegt, innerlich jubilieren? Dies sieht man ihnen aber wiederum nicht an. Sie wirken gequält, getrieben. Oder haben Zweibeiner, welche in schönen Umgebungen aufgewachsen sind, keine Augen mehr für die Schönheit, die sie umgibt? Entweder weil sie meinen, diese steht ihnen zu, oder weil ihre Hirne und Herzen stumpf geworden sind? Archibald, der das Glück hatte, erst seit ein paar Tagen an diesem Flüßchen sitzen zu dürfen und sich seines Anblicks zu erfreuen zu können, verstand dies nicht. Eine letzte Kugel sprang auf seine Bärenzunge.
Doch da war noch etwas, was der Bär sah. Und dies rührte ihn. In der Nähe der Neuen Höhle war ein Haus, in das die alten und kranken Aufrechtgeher gebracht wurden, wahrscheinlich weil sie nicht mehr so schnell rennen konnten wie die Jungen oder weil sie keine Lust mehr hatten schreiend bunte Klamotten zu kaufen. Viele dieser Alten – Aufrechtgeher konnte man die meisten gar nicht mehr nennen – schoben Eisengestelle vor sich her, die mit kleinen Rollen versehen waren. An den Gestellen hielten sie sich fest und bewegten sich so vorwärts, sehr, sehr langsam. Und so schoben und schlurften sie zwischen den agilen Läufern am Ufer des Flüßchens entlang, blieben meist nach wenigen Schritten stehen, schöpften Atem und schauten. Und wie sie schauten. Manche von ihnen, als sähen sie den Fluß das allererste Mal, manche schauten und schauten und man hatte das Gefühl, sie begreifen gar nicht, was sie da sehen. Andere wiederum streichelten den Fluß mit ihren Augen, als würden sie sich von ihm für immer verabschieden und einige sahen ihn gar nicht mehr, denn sie waren erblindet, aber sie hörten ihn und wie! Archibald war diesen alten Zweibeinern sehr dankbar. Er, der er immer noch nicht genau wußte, woher er kam, wohin er ging, wie alt er überhaupt war, er lernte von ihnen, daß es etwas gab, etwas wie die Zeit, jene Zeit, vor man nicht davonrennen kann. Die Packung war leer.
Ernst Albert kam zurück, mit etwas traurigem Herzelein. Er hatte Eva Pelagia zum Bahnhof gebracht. Er sah seinen Faulbären. Er sprach: “Freund, dies noch heute: Zieht es Dich in den nächsten Tagen wieder einmal vor die Türe, beachte: Es ist ungefährlicher eine sechsspurige Autobahn im Rest der Republik zu queren, als einen Fahrradweg in dieser Stadt. Hugh!“ Und er holte sich ein lokales Bier aus dem Kühlschrank. Schokokugeln waren ja alle.