“Wer die eine Hälfte gefunden hat, muß auch die andere suchen.”, krächzte der Rabe
Mittwoch, 17. März 2010 8:20
Genau hier war es gewesen. Es war Archibald, als bewege eine fremde Macht seinen Arm, der mit einem Stück Kreide die Umrisse eines Bärenbeines auf die Treppe malte, welche zum Eingang des sogenannten Neuen Schlosses der kleinen Stadt führte. Da hatte es gelegen, das Bein, im Frühsommer 2006, genauso einsam wie Archibald sich heute fühlte. Harter Stoff. Der Mensch mag ja die eine oder andere Therapieform in Sachen Traumaaufarbeitung entwickelt haben, in deren Zentrum harte und schonungslose Konfrontation steht, aber muß man damit auch einen armen kleinen Bären quälen? Archibald dachte nach. Bald vier Jahren sind kein Pappenstil und man will ja auch präzise bleiben. Eines war klar: Archibald war Opfer, Opfer eines bei den Menschen so beliebten Gerangels, welches unter dem Motto steht: „Alles meins, meins, meins.“ Das gilt selbstredend für beide Parteien. Aber wer waren die Kombattanten, die Archibald damals in zwei Stücke gerissen hatten? Zwei Kinder, Geschwister gar, die sich gegenseitig den Bären nicht gönnten? Oder war er eine Art Trennungskind, wo sich das auseinanderstrebende Paar in einem öffentlichen Streit nicht über den Verbleib des armen Bärenviechs einigen konnte? Hatte ein armer Trunkenbold eine letzte Erinnerung an eine grandios gescheiterte Liebe zerstören wollen? Hatte gar ein Mensch – und so etwas gibt es tatsächlich – Archibald einem verzogenen Vierbeiner zum Spielen vor die Schnauze geschmissen? Oder litt er an den katastrophalen Spätfolgen eines klassischen Verarbeitungsfehlers? Archibald spürte einen alten Schmerz, doch er erkannte nicht den Verursacher. Nur eines war sicher: es war ein Mensch gewesen, der sich in einen schuldhaften Zusammenhang verstrickt hatte. Wobei sich in diesem Zusammenhang Archibald die Frage stellte, warum der Mensch sich immer dann Mensch nennt, wenn er damit aussagen will, daß er ein ganz besonders feinfühliges und aufrechtes Wesen sei. Ambivalentes Saupack, schoß es Archibald durch den Kopf und das darf dann schon mal sein in solch einer Situation.
Der Tag war vorangeschritten, Zweibeiner auf dem Weg zu Arbeit eilten an Archibald vorüber und schauten – Verzeihung – dumm. Der Platz vor dem Neuen Schloß füllte sich mit den vierrädrigen Lieblingsspielzeugen der Aufrechtgeher und zwischen den abgestellten Kisten raste ein kleines orangefarbenes Reinigungsmobil umher. Es quietschte und fiepste, auf seinem Dach drehte ein Blinklicht und zwei riesige runde Besen, die an der Vorderseite des Mobils angebracht waren, rotierten unablässig über den Boden und saugten alles was auf dem Platz herumlag gnadenlos in das Innere des kleinen Monsters. Archibalds Herz zog sich zusammen. Man stelle sich vor: damals: er und das abbe Bein und dann dieses Ding. Nein, gar nicht dran denken. Archibald erhob sich. Das rechte Bein juckte, aber es hielt. Langsam tapperte er von dannen. Er suchte etwas. Er suchte sich, genauer den zweiten Teil von Archibald, dem Bären. Ein Schwarm Raben zog über den saubergesaugten Platz dahin. Sie krächzten Archibald zu. Er winkte zurück, vorsichtig, denn man weiß ja nie.
Thema: Archibalds Geschichte | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth