Archibald entdeckt das Buchstabenriechen
Da stand also Archibald vor dem roten Sofa, auf dem Ernst Albert laut und regelmäßig vor sich hin röchelte. Ein aufgeschlagenes Buch lag auf dem Bauch des Schläfers und hob und senkte sich im Rhythmus der Atemzüge. Vom Titelblatt des hoch und runter tanzenden Buches blickte Archibald ein Bär entgegen. Kein gewöhnlicher Bär, der einen Lachs fing oder durch die Wälder schlenderte, nein, ein Bär, der einen Anzug und dazu Hemd und Schlips trug. Ein großer, nicht überragend intelligent aussehender Bär im Anzug, mit Hemd und Schlips in den Straßen einer offensichtlich größeren Stadt zwischen vielen und kleineren Menschen. Menschen und Straßen, und das aus leidvoller Erfahrung, kannte Archibald. Doch angezogene Tiere fand Archibald schon immer entsetzlich. Manchmal peinigten Archibald Alpträume, in denen er als ganz, ganz junger Bär zwischen etlichen Bären, Hunden und anderen Viechern saß, von denen die Hälfte angezogen waren wie Menschen. Er träumte, daß Kinder und Erwachsene ihn anstarrten und mit dem Finger auf ihn zeigten oder ihn gar betatschten. Als ob ein einstmals abbes Bein, von dem es noch zu berichten gilt, nicht schon Bärentrauma genug sei. “Hallo? Was ist denn das für ein Bär? Anzug geht ja so was von gar nicht. Oberpeinlich.” Archibald bemerkte, daß er vor lauter posttraumatischer Empörung in eine Art von eigentlich herzlichst verachteten Jugendslang verfiel, als Ernst Albert sich grunzend auf die Seite wälzte und das Buch vor Archibalds Tatzen fiel.
Archibald war innerlich schon wieder auf dem Rückmarsch zu seiner Fensterbank gewesen, wollte den Schnarcher und den Peinlichbär im Anzug ihrem Schicksal überlassen, als sich seine Nase meldete. Sapperdautz. Sie zuckte und zitterte und zwang Archibald, diese seine Nase, wie von Geisterhand bewegt, zwischen die mit unzähligen kleinen schwarzen Mäusespuren bedeckten Seiten zu stecken. Und Archibald roch. Und er roch nicht nur, für einen normalen Bären keine große Sache, die Bäume, die gefällt worden waren, um das Papier herzustellen, die stählernen, gut geölten Maschinen, welche die kleinen schwarzen Mäusespuren auf das Papier gepreßt hatten, den Schweiß des Mannes, der sich die Anordnung der Mäusespuren ausgedacht hatte, die Zigaretten und die Gläser roten Weines, die er beim Denken und Schreiben zu sich genommen hatte, mehr noch: Archibald roch eine Geschichte. Archibald roch die Geschichte eines Bären, der auf der Suche nach einer Torte in einer Aktentasche mitten im Wald ein fast fertiges Buch findet, welches ein Schriftsteller dort versteckt hatte. Aus was für Gründen auch immer. Um präzise zu bleiben, er roch sogar, daß man solch ein so gut wie fertiges Buch Manuskript nennt. Archibald roch, wie der Bär, erst darüber enttäuscht nicht Freßbares gefunden zu haben, nach und nach Gefallen an den Worten in diesem fast fertigen Buch findet und es also mitnimmt, wie der Bär zu seinem Anzug kommt, wie er in eine Stadt geht, wie er einen Verleger für das Buch findet, wie er Frauen kennenlernt und mit ihnen unglaubliche Dinge tut, und wie er reich und berühmt und verliebt und plötzlich wacht Ernst August auf und er glaubt nicht, was er da sieht: “Liebste! Kommst Du mal bitte. Das hier mußt Du Dir anschauen! Unfaßbar!”