Von Lachseintopf, Aufräumen und Bärennasen
Donnerstag, 25. Februar 2010 8:10
Archibald hatte die Augen aufgeschlagen und seine Zunge schmeckte die Reste eines geträumten Lachseintopfes mit Heidelbeeren. Was sah er? Vor dem Fenster regnete es. Immer noch? Wieder? Keine Veränderung also draußen. Gut. Oder doch? Mit seiner Bärennase, die einhunderttausendmal besser riechen kann als eine Menschennase, roch er, wie in nicht allzu weiter Ferne die Wasser der Flüsse und Bäche gewaltig anschwollen und dabei so einiges an winterlichem Unrat mit sich fortrissen. Es wird aufgeräumt. Wie gestern Eva Pelagia es tat, als sie, nachdem der neue Schrank aufgebaut war, stundenlang durch die Höhle gestürmt war, jenes von hier nach dort, dieses von da nach hier und wieder zurück räumte und dabei häufig zweifelnd ihre wunderschöne Stirn furchte. Archibald hatte vollstes Verständnis. Bewegung und Veränderung. Auch wenn es nur ein neuer Schrank ist, der hinzutritt, ein altbewährtes Gefüge muß sich neu zusammenrütteln. Der Blick bleibt als erstes am Eindringling, auch wenn man ihn noch so herbeigesehnt hat, haften. Neue Bäume wachsen langsam und schieben sich unmerklich in das Auge des Betrachters, aber so ein Schrank: eine halbe Stunde Hämmern und Fluchen und Schrauben, zwei gepflasterte Daumen von Ernst Albert später und da steht er nun: neu, fordernd, frech. “Füll mich! Nutze mich! Schau mich an.” Und dann dieser neufremde Geruch. Archibalds einhunderttausendmal empfindlichere Nase roch noch die Maschinen, welche die Bretter in Paßform gesägt hatten, den Schweiß der Arbeiter, die die Bretter in Plastikfolie und Pappendeckel eingepackt hatten und das vergossene Blut Ernst Alberts. Prinzipiell ist so eine feine Bärennase eine sehr sinnvolle Einrichtung. Zum Beispiel im Frühjahr, wenn sie in kilometerweiter Entfernung das Aas riechen kann, die Opfer eines harten Winters, die dem Bären dazu dienen, wieder zu Kräften zu kommen nach dem langen Schlaf. Aber so eine Bärennase kann auch eine rechte Qual sein. Wenn gar ein neuer Bär im Wald auftaucht und Ansprüche erhebt auf Aasstücke, Beerensträucher, Bienenwaben, kann sich das zur olfaktorischen Folter auswachsen. Über Kilometer hinweg weht der sensiblen Bärennase der Dunst des neuen Rivalen entgegen. Da werden selbst quadratmeilengroße nordische Wälder zur gefühlten Einraumwohnung ohne Fenster. Das einzige, was die Bärennase dann beruhigen kann, ist das Wissen darum, daß die neue Nase im Revier ähnliches erleidet. Jawoll, auch die Bärengötter sind gerecht. Und da schoß es Archibald ins Hirn. Der Verlust des Beines damals, vielleicht die Folgen eines Kampfes? Um Aasstücke? Beerensträucher? Bienenwaben? Dunkle Ahnungen, ein bedrohliches Echo aus längst vergangener Zeit. Groß und fordernd im Raum: die Vergangenheit.
Ernst Albert kam zurück von einem Spaziergang. Er hatte seine verletzten Daumen und sein Hirn ausgelüftet, war bester Laune und rief, die Türklinke noch in der Hand: “Beste, schau mal, was ich gefunden habe. Da wird das Bärenviech aber Augen machen.” Und wäre beinahe gegen den neuen Schrank gerannt. Rumms! Und Archibald hatte wieder etwas vergessen.
Thema: Küchenschypsologie | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth