Die Geschichte vor der Geschichte bleibt dunkel
Mittwoch, 24. Februar 2010 13:02
Eine alte Bärenweisheit aus Kamschatka lautet: “Betrachte jeden Fluß von beiden Ufern aus.” Archibald setzte sich um. Auch wenn es Bären im Allgemeinen und Archibald im Besonderen schwerfällt liebe Gewohnheiten zu ändern oder gar aufzugeben. Nun blickte er von der anderen Seite aus dem Fenster. Jedoch die Welt draußen hatte sich nicht umgesetzt. Der Regen fiel weiterhin gleichmäßig aus einem grausuppigen Himmel und die allerletzten schmutzigen Schneereste verschwanden im Gulli. Regen bleibt nun mal Regen, ob von rechts oder links betrachtet. “Da hätte ich auch auf der anderen Seite sitzen bleiben können.”, hörte Archibald seine bärengenetische Faulheit protestieren. Doch das Gleichmaß der fallenden Tropfen versetzte ihn innert kürzester Zeit in einen angenehmen Zustand der Weltergebenheit. Er saß. Es regnete. Ob von rechts oder von links betrachtet, ganz egal. Und er dachte ebenso gleichmäßig und weltergeben darüber nach, ob es tatsächlich eine sinnvolle Angelegenheit sei, in der alten Rumpelkammer namens Erinnerung rumzukramen. Und ob es denn wirklich wesentlich sei , jene Geschichte vor der Geschichte aus irgendeinem alten muffigen Pappkarton rauszuziehen, falls sie da überhaupt noch drinliegt. Dies liefe letztendlich rein küchenschypsologisch immer darauf hinaus, daß man einen Schuldigen suche und auch finde. In 90% der Fälle wäre der Schuldige dann Papa Bär, der den armen Bärenjungen nicht ordentlich genug liebgehabt hat, weil er lieber vergorenes Obst fraß und Fremdbärinnen hinterher rannte oder den armen Bärenjungen anfauchte, wenn der zu blöd war, sich selber einen Lachs aus dem Bach zu holen. Aber da ein Papa Bär sich sowieso nie um seinen Nachwuchs kümmert, hatte sich das hiermit erledigt. Das abbe Bein war wieder dran und viel wichtiger als den Abmacher zu verurteilen und bloßzustellen, ist es doch den Anoperierer zu ehren. Oder? Oder vielleicht doch nicht? Archibald kratzte sich an seinem Hinterteil. Bären sind manchmal sehr wankelmütig. Da hörte er aus dem Nebenzimmer ein Hämmern, Fluchen und Schrauben. Ernst Albert und Eva Pelagia bauten ihren neuen Schrank zusammen. Archibald schloß die Augen und hörte nur noch zu. Der Regen und das Hämmern, Fluchen und Schrauben verschmolzen zu einem Rhythmus. Drinnen und draußen, gestern und heute, ab und an: alles ein großer wohlschmeckender Eintopf.
Thema: Archibalds Geschichte | Kommentare deaktiviert | Autor: Christian Lugerth