Und was könnte besser sein? Bären schlafen, Hasen hüpfen an so’nem Abend in Frieden / 4

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Der Schlaf des Bären war ein unruhiger. Wie soll es auch anders sein, wenn einem die ganze Winternacht ein Hase mit Brettern an den Füßen um die Ohren fliegt und also träumte der Bär, wie leichter und leichter er wurde, schließlich abhob und was er dann sah. Und sprach so vor sich hin, das Folgende.

„Als ich ein Kind war, konnte ich fliegen. Ich hatte es nie gelernt, ich konnte es, soweit mein Erinnern reicht, und davor, das weiß ich genau, war ich eine Schwalbe gewesen: Ich weiß es, weil ich, wiewohl mein Fliegenkönnen noch immer durch die sich stützend auf das Treppengeländer gepreßte und dessen Rundung umklammernde Rechte an die Regeln des niederziehenden Raumes gebunden schien, doch stets das vollkommen sichere Gefühl hatte, nur wollen zu müssen, um, frei wie eben eine der Schwalben, in die golddurchwallte Violettluft des glastürbegrenzten Treppenhauses aufzuschnellen und durch die kleine Fensterluke oben rechts zu enteilen, wenn ich, aus der Schule heimgekehrt, mich mittags von der fünften Stufe von unten abstieß.

Fliegen war ebenso herrlich, wie es mühelos war, und es war lange Zeit nicht zu verstehen, daß die Erwachsenen es nicht aus eigener Kraft vermochten, sondern dazu tote Apparate mit metallenen Flügeln und Schrauben oder gar kilometerlange zigarrenhafte Gebilde brauchen mußten. Und dabei war es wirklich ganz einfach: Mit der rechten Hand das Geländer im Treppenhaus zwischen dem ersten und zweiten Stock umfaßt und von der fünften Stufe von unten, sich herzhaft abstoßend, kühn mitgestrecktem Rücken in die friedsam ruhende Luft aufgefahren und lange Stunden so auf ihrem Zenit verharrt, Stunden um Stunden, während drunten Farnsteppen sich zogen oder Indianerprärien mit Wigwams und Marterpfählen und rasend stampfenden Büffelherden, oder walnußgrüne, von kreischenden Affen und Papageien durchtanzte Wälder, oder das milchige Eis der schwimmenden Gletscher, darüber weiße Bären mit blutigem Maul trotteten, oder auch Ninive. Wenn Ninive unter mir auftauchte, erschien auch sofort der schlangenhäutige Fluß Nil!

…und hinter dem Nil habe ich auch manchmal Kanaan, das gelobte Land Abrahams mit seinen höckerschlenkernden Kamelen und schwereutrigen Kühen, die seltsam übereinandergehäuft um die klaffenden Zisternen gelagert waren, erblickt, allein das REICH, das Reich gleich hinter den drei geschwungenen Bergen, das Reich, von dem, wie alle Einwohner unseres Grenzdorfes, mein Vater und manchmal sogar meine fromme Mutter mit Prophetenmiene sprachen, das geheimnisvolle, phantastische Reich, das ich begehrte wie ein neues, noch nie geschautes Spielzeug, das einmal kommen und mich überwältigen würde: das REICH habe ich nie zu schauen vermocht.“

Kurz wachte er auf. Was waren dies für Worte? Und so viele. Geheimnisvoll. Doch sie kamen ihm so bekannt vor, die alten, wohlgesetzten, sprachmächtigen Worte. Dann schlief er wieder ein, der Archibald Mahler. Vielleicht hob er auch gleich wieder ab. Lassen wir ihn solange in Ruhe.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Dienstag, 19. Januar 2021 5:45
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