Vorletzte Fragen in diesen Tagen / Neun

engel19

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Abbes Bein revisited. Beleidigte Komfortzone. Dankbarkeit.

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Die Nacht war außerordentlich unruhig gewesen. Schlaf in Scheiben. Da das Zimmer Zwonullsieben unterm Dach lag, mit Fenster gen Westen, prasselte ohne Unterlaß der nächtliche Regensturm gegen die Behausung. Dazu die Reste des gestrigen Tages in den Klamotten und im Fell. Die lange Wanderung. Die Heimsuchungen des Lenz. Etliche Eindrücke. Pochende Fragen. Der Zweifel. Das Hadern. Archibald Mahler, offenen Auges im Dämmerschlaf auf seiner Fensterbank, sah wie der Regen immer neue Tropfengemälde auf das Fensterglas pinselte, wild, wütend fast, sich stetig verändernd. Aufschwellend, abschwellend das Prasseln, Trommeln, Rütteln der Böen und der Bär wanderte in Trance durch seine rotierenden Nachtgedanken. Ach ja, man hatte gestern versprochen noch etwas zu erklären. Die Sache mit dem „Ehrenwerten“. Die Angelegenheit Dankbarkeit. Vernehmet: und so liegt Archibald Mahler wieder auf dem Brandplatz in der Kleinen häßlichen Stadt, auf der Straße, auf heißem Asphalt, in jenem Sommer vor fünfzehn Jahren, zerrissen, geteilt, sein rechtes Bein Meter und Meter von ihm entfernt, ohne Schmerzen zwar war er, doch sehr verwirrt. Warum und woher das Ganze? Wer wollte ihm Böses? Wo waren die Täter, die Verursacher seiner momentan außerordentlich fragwürdigen Situation? Heranwankt kommt ein Mime, man packt  ihn, den Bären am Schlafittchen, ein ihm inzwischen wohlbekannter Zugriff, damals ein erstes Mal gespürt. Was geschah gleich wieder vergessen in dieser großen Verwirrtheit. Zurückkehrte Erinnerung in jenem Moment, als er sich wiederfindet auf einem Nachttisch, sein abbes Bein in Griffweite an seine Hüfte gelehnt, jedoch noch nicht wieder mit ihm verbunden, neben ihm schnarcht ein Trunkener und den Bären durchströmt neben der Hitze des überwundenen Schreckens und der Sommernacht ein ihm bis daher unbekanntes Gefühl. Und er tauft es Dankbarkeit und murmelt: „Das war schon aller Ehren wert, daß der Aufrechtgeher mich nicht hat auf der Gass’ hat liegenlassen. Oder gar (ihn schaudert nachträglich) entsorgt hat.“ Und da die Dankbarkeit für einen Bären kein ein – oder ausschaltbares Eintagsfliegengefühl ist, darf sich bis zum heutigen Tag der Aufrechtgeher Ernst Albert mit dem Titel „Ehrenwerter“ schmücken. Hat der Mahler entschieden und muß dabei an so etliche der hiesigen Aufrechtgeher denken, die das Schicksal seit fünfundsiebzig Jahren des Friedens mehr als pfleglich behandelt hat, die aber jede Begegnung mit dem Unglück als eine Art persönliche Beleidigung betrachten, als seien sie aufs ewige Glück abonniert in ihrer Komfortzone. Sie fühlen sich unverwundbar und sind davon überzeugt sie seien als Krönchen der Evolution von allen Zumutungen existentieller Umbrüche und daraus resultierender Mühen und Überlebenskämpfe befreit. Dankbarkeit ist ihnen so fern wie der Nächste und wesentliche Äußerung ist ihnen die tägliche Forderung, unbegründet meist und bei nicht sofort erfolgter Erfüllung der Ansprüche vom beleidigten Flunsch oder, schlimmer noch, blindem Umsichschlagen begleitet. Man mag nichts lernen aus dem Mißratenen, Unglückseligem, Einbrüchen, Veränderungen kurz: dem Anderen. Die Abwesenheit aller Götter jenseits der Götzen des grandiosen Selbst. So  waren des Archibald Mahler Denkpfade in der stürmischen Nacht. Der schlaflose Ehrenwerte aber las und las.

Stunden später und entschieden leichter saß man auf einer Bank am Waldesrand. Blickte hinab ins Tal der Nidder. Die Sonne schien auf den Pelz. Ein Regenschirm spannte sich über das – kein Wunder – noch schläfrige Haupt. Man war nach Laudes und Frühstück aufgebrochen. Weite Wege waren heute nicht vorgesehen. Der gestrige Tag steckte noch in den Oberschenkeln. Doch die erfuhren auch heute kaum Schonung. Man war aufgebrochen bei optimistischen Wolkenlücken. Nach wenigen Minuten war man jedoch, ordentlich durchnäßt, gezwungen umzukehren und einen in der Teeküche vergessenen Regenschirm zu organisieren. Zweiter Versuch nun, dies kennt man ja, und seit einer Stunde schleppt man den Regenschirm durch eine sonnenbeschienene Landschaft. Von der Vorfrühlingssonne erfreut saß man schweigend und – ja! – dankbar dafür hier und heute hier und genauso eben hier und jetzt sein zu dürfen, denn Mutter Natur hatte einen Regenbogen über das Tal gezaubert. Schön!

Das Schweigen währte eine lange Weile. Man dankte sogar für die Langeweile. Sie war warm und begehrte nichts anderes als da zu sein. Dann begann der Bär, in sich hineinblickend, aber doch wie aus sich herausgetreten leise vor sich hin zu sprechen. Mit wem redete er? Mit sich selbst? Jedenfalls nicht mit dem Ehrenwerten Ernst Albert. Mit wem dann?

„Mahler, mein Bär, sag an, betest Du etwa?“

„Ich danke nach … ähem … denke nach übers Danken. Denke ich!”

„Ist es dies nicht, was ich frage?“

„Dieser Regenbogen!“

„Ich wußte nicht, daß Bären religiöse Erlebnisse haben!“

„Wenn sie aber wollen! Und: Ist das nicht ein grundsätzliches Bedürfnis? Da brauch man an nichts zu glauben!“

„Auch nicht an Deine vielfältigen Bärengötter?“

„Ich weiß nicht, ob oder wieviele es gibt, aber das ist Wurst wie Lachs. Was in mir ist, gibt es auch draußen in der Welt. Oder sonst wo. Schließlich müssen wir ja irgend jemand Dank sagen für unser Leben, auch dann, wenn zufälligerweise niemand da ist, der diesen Dank entgegennehmen könnte!“

„Halt! Das kenne ich doch!“

„Das haben Sie mir heute Nacht vorgelesen, weil ich mehrmals  ‘Danke’ gemurmelt habe im Traum!“

„Ach ja. Der Imre Kertesz! Dossier K.“

„Das habe ich mir gemerkt!“

„Und erinnerst Du Dich noch, was Du davor gerufen hast diese Nacht? ‚Vergiß nicht mein Abbes Bein! Vergiß es nicht!’ Herzzerreißend laut!“

„Das habe ich vergessen!“

„Komm mit, ich zeig Dir was!“

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Dienstag, 31. März 2020 19:39
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