Wolziger Seelegien / Fünf / Äpfel

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Natürlich läuteten keine Kirchenglocken den Weg zu weisen in den Wäldern zwischen Klein – Eichholz, Streganz und Selchow, in den knirschend trockenen Wäldern, die Archibald Mahler auf dem Gepäckträger eines Mietrades querte, froh gelaunt, offenen Auges, lauschenden Ohres, keineswegs leidend unter der glühenden Hitze, die selbst in die letzten Zipfel des Waldschattens gekrochen war, Stamm, Ast, Laub, Nadel, Moos, Gräser, alles dörrte und zermürbte, doch nicht das Hirn des Bären, denn Mahler wußte, wer unterwegs ist, kommt irgendwo an, benötigt keine Hinweise, sei es auf Tafeln, von oben nicht oder unten oder sonstwo her, es genügt dem Impuls zu folgen und weiter geht man. Erst jener, der sich verlaufen hat, macht die Augen auf. Und so fand Mahler eine unbeschilderte Kreuzung im tiefen Forst weitaus interessanter als eine ausführlich beschilderte.

Ernst Albert hätte Archibald Mahler da gerne rückhaltlos zugestimmt, aber der Rücken, die Oberschenkel, der brennende Nacken, das klebende Hemd sowie Alter, Herkunft und Werdegang meldeten Bedenken an. Kontrolle! Plan! Präzision! Eindeutigkeit! Der hervorgestoßene Fluch richtete sich jedoch gegen den Absender selbst und machte umgehend Platz einem vagen Wunsch, daran glauben zu können, ja sogar darauf vertrauen zu können, daß ein Umweg zu einem neuen, gar die Augen öffnenden, vielleicht still gewünschten, erhofften Ziel führen möge, daß eben die vielbesungene Koinzidenz, daß diese, wissend, vorhersehend, den Reisenden führt! Von wo? Wer?

Selchow! Ein Straßendorf, das sich zwischen zwei Wäldern durch abgeerntete Felder windet, einer bewohnten Schlange gleicht, in deren Mitte, als habe die Schlange ein großes Kaninchen herunter gewürgt (Verzeihung für dieses Bild, bester Herr Budnikowski!), ein ovaler Platz sich auftat, uralte Eichen, das Feuerwehrhaus mit Schlauchturm, Storchennest (unbewohnt) und die Kirche. Freundliche Ruhe, ein Traktor rattert vorüber, ein älteres Ehepaar führt den Hund spazieren, man grüßt, entspannt. In der offenen Kirche empfängt wohltuende Kühle, einer der an der Pforte angekündigten Engel fächelt Luft zu und reicht ein Blatt. Ein Text von Hans Dieter Hüsch. Ernst Albert erinnert sich an den Geschichtenerzähler und Prediger vom Niederrhein, erinnert dessen knarzende, nasale Stimme und den Sound der elektrischen Tischorgel, mit der er seine rasend vorwärts stürmenden Wortkaskaden begleitete, gliederte, durchschoß. Ernst Albert las:

Juni – Psalm:

Herr, es gibt Leute, die behaupten, der Sommer käme nicht von dir. / Und begründen mit allerlei und vielerlei Tamtam und Wissenschaft und Hokuspokus, / daß keine Jahreszeit von dir geschaffen und daß ein Kindskopf jeder, der es glaubt. / Und daß doch keiner dich bewiesen hätte und daß du nur ein Hirngespinst./ Ich aber hör nicht drauf und hülle mich in deine Wärme. / Und saug mich voll mit Sonne und laß die klugen Rechner um die Wette laufen. / Ich trink den Sommer wie den Wein. Die Tage kommen groß daher / und abends kann man unter deinem Himmel sitzen und sich freuen, daß wir sind und unter deinen Augen leben.

Ein Gebet sprechen? Warum nicht! Für diesen Tag galt es sich zu bedanken. Und für den Umweg erst recht. Wo das Glück einen hinführt.

Archibald Mahler saß derweilen auf den Stufen vor der Pforte und beschäftigte sich mit dem Reiseproviant. Äpfel aus dem hiesigen Pfarrgarten. Äpfel! Pfarrgarten! Der Garten Eden! Die Erkenntnis! Das Feigenblatt! Paris und Helena und Aphrodite! Der Krieg um Troja! Die Odyssee! Weia! However: an apple a day, keeps the doctor away.

“Herr Albert, da gibt es doch so ein altes Gedicht, von dem Mann, der an die Kinder Äpfel verteilte und als er tot war, wuchs der Baum aus seinem Grab und das war doch auch hier irgendwo in der Gegend!“

„Fast, Herr Mahler, fast! Aber in diesem Gedicht handelte es sich um eine Birn’, die der gute Herr von Ribbeck auf Ribbeck an die Jungs und Dirn’ verteilte!“

„Kann man eigentlich, statt zu beten, auch so einen Apfel essen?“

Das waren die Fragen, für die Ernst Albert seinen Bären liebte. Die Äpfel mundeten sehr.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Mittwoch, 6. August 2014 12:07
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