HERR MAHLER VARIIERT ÜBER ENTEN 10

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„Der Vorhang ist gefallen und jetzt geht das mit den Fragen erst richtig los.“ Archibald Mahler fällt das Originalzitat nicht mehr ein, aber so ähnlich war es. Er hält den unbeworteten Kritikerblock in seinen Tatzen. Der Bleistift schläft noch. Die Fragen aber irren schon über die nächtlichen Flure. Bald zwei Wochen hat der Bär zugeschaut. Am Ende hat er Zuschauern beim zuschauen zugeschaut. Er konnte gar nicht mehr seine Augen aufs Schilf und die zwei alten Mimen lenken, die zuschauenden Aufrechtgeher haben seine ganze Aufmerksamkeit verzehrt. Und so gibt es doch einiges zu bearbeiten und zu verdenken oder umgekehrt. Zum Beispiel: Ist das Schauen eine Tätigkeit? Kann man mit vor der Brust verschränkten Armen etwas sehen? Und dazu noch mit schief gelegtem Kopf? Oder mit hinterm Haupt verschränkten Gliedmaßen? Ist das Zusehen, falls man es als eine Tätigkeit bezeichnen darf, eine Tätigkeit aus der etwas Neues erwachsen soll oder eine Tätigkeit, die dazu dient etwas zu erhalten? Etwas zu bestätigen? Ist Schauen rückwärtsgewandt oder blickt man nach vorne? Sieht der Zuschauer was er sieht oder nur das, was er erwartet oder vermißt, oder sieht er nur seinen eingewachsenen Zehnagel und die Wettervorhersage? Kann man irgendwohin schauen und gleichzeitig so tun, als sei man ein Fotoapparat und somit behaupten, das eigene Hirn sei in der Lage Gesehenes objektiv abzuspeichern? Muß man nicht alles, was man gesehen hat, für sich behalten, da jede Beschreibung des Gesehenen sich vom im Moment des Sehens Erfahrenen mehr oder weniger komplett unterscheidet? Ist rot rot? Ist grün grün? Ist es zulässig, einem anderen Schauer seine Sicht der Dinge – wie es so schön heißt – aufs Auge zu drücken? Oder soll man einfach beide Augen zudrücken? Ist nicht jedes Schauen von etwas, was vermeintlich tatsächlich stattgefunden hat, eine Art von Übersetzung in den eigenen Kosmos, eine Art von Einordnung in die eigenen Karteikarten, sei es Beifall, Pfiff oder Unentschiedenheit? Ist nicht das betrachtete Objekt vollkommen frei von den Blicken, die man auf es wirft? Existiert es nicht auch ohne Betrachter? Oder beginnen die Dinge erst dann zu leben, wenn man sie betrachtet? Oder gar erst dann, wenn man vom Schauen spricht? Uff! Archibald Mahler sitzt allein im Musentempel. Alle sind weg, der Vorhang offen und alle die Fragen zu oder so ähnlich. Archibald Mahler hat das Gefühl die Antworten auf all seine Fragen befinden sich gerade in Wyoming oder auf Kamschatka. Der ehrenwerte Herr Ernst Albert will abschließen. Den Musentempel und die Sache mit den Enten. Der Bär ist sehr müde. Herr Albert nimmt ihn auf den Arm und bringt ihn in die Höhle. Und dann liest er ihm etwas vor. Aus einem seiner neuen Bücher.

„Die Aymara in den südlichen Anden glauben, daß man nur von dem sprechen kann, was man persönlich erlebt hat. Man kann also nicht sagen: „Lincoln wurde ermordet“, sondern nur „Ich habe gehört, Lincoln wurde ermordet“. Anders als nahezu alle anderen auf der Welt glauben sie, daß die Vergangenheit vor uns und die Zukunft hinter uns liegt, denn die Vergangenheit war deutlich zu sehen, und die Zukunft liegt im Ungewissen.“

Und Archibald Mahler, der eigentlich schon eingeschlafen war, findet, daß dies ein tolles Buch sein muß. Aber das ist eine ganz neue Geschichte. Gute Nacht!

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Freitag, 14. Oktober 2011 21:10
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