Wenn die Geschichte zu Ende ist, mach das Licht aus! (Walden Sixteen)

lichtung

Sechs Tage hatte er nun die Pforten der Wahrnehmung weit geöffnet und auf sich einprasseln lassen, was sich in und um ihn herum erinnerte. Sein abbes Bein hatte eine Geschichte bekommen und Archibald Mahler, Bär auf Kurs Selbsterfindung, hatte seit heute Nacht eine – fast – komplette Biographie. Ob es tatsächlich so war? Schaun wir mal. Das Leben ist manchmal nichts als ein überlaufender Wörtersee und dann muß man aufpassen, darin nicht abzusaufen. Die letzten Tage waren kühler gewesen, aber das hatte der Bär gar nicht mitbekommen. Regen und Erinnerung, die auf ihn niederprasselten: schwer auseinander zu halten. Heute morgen war die Luft wieder weich und mild. Zeit für die Lichtung, für Schmetterlinge, für Blumen und eine ordentliche Floralmeditation.

Was hatte Jim Morrison einst gesungen? „Bevor ich in den Großen Schlaf sinke, will ich ihn hören, will ich ihn einmal hören: den Schrei des Schmetterlings!(Kein Neil Young heute? Fragt der Setzer!) Wart’s ab und unterbricht mich nicht! Und sie schrieen, die Schmetterlinge. Und keiner konnte sie hören. So ist das mit der Erinnerung! Keiner wird jemals begreifen, was man erlebt hat. Spurenelemente der eigenen Erzählung werden im Rezipienten bestenfalls Spurenelemente seiner eigenen Geschichte aufblitzen lassen. Auf der Zungenspitze des Zuhörers sammeln sich sogleich die Korrektur des fremden Erlebens und das eigene Empfinden und ergeben bestenfalls eine nickende Melange! Sich auf eine Geschichte zu einigen bedeutet immer: Verzicht! Bitterer Geschmack! Doch dies war es nicht, was der Bär auf der Lichtung roch und schmeckte. Heute war alles leicht! Dinge geschehen. Man nennt es den Schmetterlingseffekt. Man sagt sogar, der Flügelschlag eines Schmetterlings könne einen Sturm auslösen: am anderen Ende der Welt. Nicht alle Aufrechtgeher sind dumm. Und hätte man Archibald am Aschermittwoch dieses Jahres erzählt, wo er landen würde, auf die Welt schauend, in die Welt schauend. Lassen wir das!

Everybody’s alone. Da saß er also und genoß die Einsamkeit und genoß eben diese Einsamkeit, weil er wußte, daß es jemanden und noch mehr, viele Jemande gab, die an ihn dachten und wohlwollend seine kleinen Reisen begleiteten und also bedrückte ihn in diesem Moment, als eben jener Gedanke ihn berührte wie der Schlag eines Schmetterlingsflügel, eben dann doch eine Einsamkeit, die sich sehnte nach dem Teilen des Erlebten, wohl wissend, daß es ein Verständnis nicht gibt, aber daß im Erzählen nun mal der Genuß des Sichselbstvergewisserns liegt und so nickte der Bär sich zu und die Sonne schien und schien und die Schmetterlinge umkreisten unermüdlich sein Haupt, die Blumen schickten unermüdlichen Wohlgeruch in seine empfindliche Nase und sein Pelz tankte und speicherte ab die lebensspendende Wärme und sein sich leerendes Hirn kreiselte gedankenlos unter einem friedlichen Sommerhimmel und bemerkte, da sich der Abend über Archibald Mahler niedersenkte, daß er soeben dabei war den längsten Satz seiner bisherigen Weltschaukarriere gedacht zu haben und wurde müde und schaffte es gerade noch in seine Höhle im Walde am Fuße des Schiffenbergs , um dort – Einer geht noch! – entspannt grinsend, nach rituellem Pöterkratzen und dem Genuß zweier Löffel der leckeren, seit sechs Tagen vernachlässigten Heidelbeermarmelade in einen Großen Schlaf zu fallen. Ja! Und er hörte den Schrei des Schmetterlings.

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Samstag, 31. Juli 2010 16:31
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