Geben wir dem Zufall Sinn und Form und nennen es Geschichte! (Walden Ten)

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Selbstredend ist der Erinnerung nicht zu trauen. Sehr gelehrte Aufrechtgeher sprechen von der sogenannten „Quellenamnesie“. Der sich Erinnernde vermengt tatsächlich Erlebtes mit später Rezipiertem: Berichte, Bücher, Filme, Fremderzählungen. Das Hirn rührt sich seine eigene Melange zusammen und ernennt diese Wahrnehmung zur Wahrheit. Diese Wahrheit kann also nicht mehr sein als nur ihr eigener Teilaspekt. Dürfen wir diese Teilwahrheit nun eine Lüge nennen? Nein, denn Erinnerung befindet sich in einem permanenten Prozeß der Überarbeitung. Tagtäglich wird umgeschrieben, gelöscht, verworfen, neu formatiert. Das Gedächtnis ist kein Archiv, auch wenn manche Zeitgenossen dies hartnäckig behaupten mögen, das Gedächtnis ist meist Mittel die Gegenwart zu bearbeiten und lebbar zu machen. Unser Gedächtnis wird jeden Tag neu geboren! Archibald Mahler, Bär vom Brandplatz und bald mehr, blickte in den Wald hinaus und erinnerte sich:

Weltspielwarenstadt! So nannte man vor hundert Jahren Sonneberg, eine kleine Stadt in Thüringen, in der damals zwanzig Prozent aller auf der Welt verkauften Spielwaren hergestellt wurden. Jacqueline Kraushaar–Dorst war das ziemlich gleichgültig. Jacqueline, oder wie ihre Kolleginnen und Freunde sie nannten, die Schakkeline oder einfach nur „de Tschäki“, arbeitete als Näherin im ‚VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg’, kurz: SONNI. SONNI war das, was von der einst florierenden Spielwarenindustrie in Sonneberg übriggeblieben war. Ein November war ins Land gezogen, in jenes Land, das im Jahre Neunzehnhundertneunundachtzig unbremsbar seinem Untergang entgegensteuern sollte. Tschäki saß vor einem Tisch in der „Nähstube Endfertigung“. Auf dem Tisch lagen – wenn die Versorgungslage es zuließ und so für die Produktion ausnahmsweise Holzwolle, Stoff, Garn und Glasaugen gleichzeitig zur Verfügung standen – Köpfe, Arme, Rümpfe und Beine von Stoffbären der Marke ‚Teddy Brumm’. Frau Kraushaar–Dorsts Aufgabe war es aus diesen Teilen, die durchaus auch sehr unterschiedliche Qualitätskriterien aufweisen konnten, einen hübschen, freundlichen und strapazierfähigen Bären zusammenzunähen. Und dies schien ihr heute zu gelingen. Ihre Vorarbeiterinnen hatten ganze Arbeit getan, die Materiallage – Agonie hin, Gorbatschow her – war eine positive. „Ei guck, der wird en Scheener!“ Doch, der Historie sei es geschuldet, die Schakkeline hörte Radio.

„Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen […]“ „Wann tritt das in Kraft?“ „Das tritt nach meiner Kenntnis […] ist das sofort, unverzüglich.“ „Gilt das auch für Berlin-West?“ „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen.“ Die Tür zur Nähstube flog auf. „Mensch, mach hinne Tschäki! Mer foahrn nieber! Nach Goburgch!“ Die sonst sehr gewissenhafte Näherin war gerade dabei das linke Bein des zukünftigen Bären anzunähen. Ein, zwei schnelle Stiche und das war es dann auch. „Wahnsinn! Wahnsinn“ Revolution Blues. Auf einem Tisch im von allen guten Geistern verlassenen VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg – kurz: SONNI – lag ein Bär. Ein gelungenes Exemplar. Hübsch, freundlich, doch – Oh Egon! Das linke Bein! – leider nicht allzu strapazierfähig. War das so? Natürlich war das so! Oder eben ganz anders!

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Autor: Christian Lugerth
Datum: Samstag, 24. Juli 2010 16:36
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