Beiträge vom März, 2010

Vom Bären vom Brandplatz

Donnerstag, 18. März 2010 7:30

abbes bein2Einhundert Meter vom abben Bein bis zur Komplettierung sind eigentlich keine Riesenentfernung. Aber für einen Bären, der die letzten Wochen und Monate meist sitzend und liegend verbracht hatte, ist das ein richtiges Stück Arbeit. Da saß also Archibald auf einem Mäuerchen, welches eine Art Park umfaßte, seine untrainierten Lungen rasselten und er war ergriffen. An dieser Stelle hatte all das gelegen, was ein abbes Bärenbein erst zum Komplettbären macht: Herz, Hirn, Bauch und Zweitbein. Hier hatte ihn Ernst Albert einst aufgesammelt und ihn in sein neues Leben getragen. Ja, Archibald war ergriffen und dankbar, obwohl er wußte, daß Dankbarkeit gegenüber den Aufrechtgehern eine zweischneidige Angelegenheit ist. Immerhin hatten sie Jahrhunderte lang großen Spaß daran Archibalds Ahnen zu massakrieren und ihren Lebensraum nachhaltig – auch so ein schwachsinniges Zweibeinerwort, dachte er – zu zerstören. Aber heute war er bereit eine Ausnahme zu machen, hier an der Stätte seiner zweiten Geburt. Und er spürte, daß es Zeit war für ein kleines Bärenritual. Er kratzte sich ausdauernd am Hintern, saugte an seinen Pfoten und rieb sich den Rücken am Eisengeländer, welches das Mäuerchen zierte. Er brauchte einen neuen Namen, eine Art – auch wenn das gräßlich martialisch klänge – Kampfnamen, jetzt wo er es hier draußen mit der Welt aufnähme. Genau, er würde sich taufen, eine originale Bärenselbsttaufe. Nichts gegen Archibald, kein schlechter Name, aber die Aufrechtgeher haben nun mal die Angewohnheit alle Arten von Viechern mit Namen zu etikettieren, die einen leichten Hang zum sogenannten Humorvollen oder Ironischen haben. Heute gefiel ihm das nicht. Und er dachte an die Frau, die ihn vor wenigen Minuten entgeistert angestarrt hatte, als er mit dem Stück Kreide seinen ehemaligen Fundort skizzierte hatte und zu ihrem Begleiter sagte: „Schau, jetzt gibt es schon malende Bären hier auf dem Brandplatz.“ Brandplatz! Ja, das war es! Archibald spuckte dreimal in die Luft und er taufte sich auf den Namen Archibald Mahler, der Bär vom Brandplatz. Nun würde er auf seinen Wanderungen immer wissen, von wo er losgegangen war. Und falls er mal einen Personalausweis beantragen müßte – man weiß ja nie auf was für Ideen die Aufrechtgeher kommen – hätte er auch einen schönen Nachnamen. Was vor dem Brandplatz geschehen war, das hatte er eingesehen, er würde es nie in allen Einzelheiten herausfinden können. Das abbe Bein und der Rest waren wieder zu einer Einheit verschmolzen. Und das war gut so, sagte sich Archibald Mahler, der Bär vom Brandplatz.

Archibald (Mein lieber Bär! Du glaubst doch nicht etwa, daß ich jetzt jedes Mal hier diesen ellenlangen Kampfnamen in die Tasten haue. Schöne Grüße: Der Setzer) stand auf und drehte sich um. Er sah diesen Park, der gerade dabei war sich aus dem Winterschlaf zu schälen. Er wußte nicht, daß dieser Park ein Botanischer Garten war und daß sie in dieser kleinen Provinzstadt sogar behaupten, daß es sich um den ältesten Garten dieser Art im ganzen Lande handelt. Er wußte aber, daß vor wenigen Tagen eine Stimme, es war die Stimme von Horse Badorties gewesen, Archibald hinausgerufen hatte, hinaus in den Park, um dort ruhig und cool, mit seiner ganzen gelösten strahlenden Persönlichkeit, sich der vitalen Meditation und dem Beknabbern von Buschwerk zu widmen. Und er dachte, daß dies ein guter Anfang für eine neue Reise sei. Täuschte er sich, oder erwärmte sich die Luft heute schneller als in den letzten Wochen? Er reckte seine feine Nase in die Höhe. Ja! Tatsächlich!

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“Wer die eine Hälfte gefunden hat, muß auch die andere suchen.”, krächzte der Rabe

Mittwoch, 17. März 2010 8:20

abbes beinGenau hier war es gewesen. Es war Archibald, als bewege eine fremde Macht seinen Arm, der mit einem Stück Kreide die Umrisse eines Bärenbeines auf die Treppe malte, welche zum Eingang des sogenannten Neuen Schlosses der kleinen Stadt führte. Da hatte es gelegen, das Bein, im Frühsommer 2006, genauso einsam wie Archibald sich heute fühlte. Harter Stoff. Der Mensch mag ja die eine oder andere Therapieform in Sachen Traumaaufarbeitung entwickelt haben, in deren Zentrum harte und schonungslose Konfrontation steht, aber muß man damit auch einen armen kleinen Bären quälen? Archibald dachte nach. Bald vier Jahren sind kein Pappenstil und man will ja auch präzise bleiben. Eines war klar: Archibald war Opfer, Opfer eines bei den Menschen so beliebten Gerangels, welches unter dem Motto steht: „Alles meins, meins, meins.“ Das gilt selbstredend für beide Parteien. Aber wer waren die Kombattanten, die Archibald damals in zwei Stücke gerissen hatten? Zwei Kinder, Geschwister gar, die sich gegenseitig den Bären nicht gönnten? Oder war er eine Art Trennungskind, wo sich das auseinanderstrebende Paar in einem öffentlichen Streit nicht über den Verbleib des armen Bärenviechs einigen konnte? Hatte ein armer Trunkenbold eine letzte Erinnerung an eine grandios gescheiterte Liebe zerstören wollen? Hatte gar ein Mensch – und so etwas gibt es tatsächlich – Archibald einem verzogenen Vierbeiner zum Spielen vor die Schnauze geschmissen? Oder litt er an den katastrophalen Spätfolgen eines klassischen Verarbeitungsfehlers? Archibald spürte einen alten Schmerz, doch er erkannte nicht den Verursacher. Nur eines war sicher: es war ein Mensch gewesen, der sich in einen schuldhaften Zusammenhang verstrickt hatte. Wobei sich in diesem Zusammenhang Archibald die Frage stellte, warum der Mensch sich immer dann Mensch nennt, wenn er damit aussagen will, daß er ein ganz besonders feinfühliges und aufrechtes Wesen sei. Ambivalentes Saupack, schoß es Archibald durch den Kopf und das darf dann schon mal sein in solch einer Situation.

Der Tag war vorangeschritten, Zweibeiner auf dem Weg zu Arbeit eilten an Archibald vorüber und schauten – Verzeihung – dumm. Der Platz vor dem Neuen Schloß füllte sich mit den vierrädrigen Lieblingsspielzeugen der Aufrechtgeher und zwischen den abgestellten Kisten raste ein kleines orangefarbenes Reinigungsmobil umher. Es quietschte und fiepste, auf seinem Dach drehte ein Blinklicht und zwei riesige runde Besen, die an der Vorderseite des Mobils angebracht waren, rotierten unablässig über den Boden und saugten alles was auf dem Platz herumlag gnadenlos in das Innere des kleinen Monsters. Archibalds Herz zog sich zusammen. Man stelle sich vor: damals: er und das abbe Bein und dann dieses Ding. Nein, gar nicht dran denken. Archibald erhob sich. Das rechte Bein juckte, aber es hielt. Langsam tapperte er von dannen. Er suchte etwas. Er suchte sich, genauer den zweiten Teil von Archibald, dem Bären. Ein Schwarm Raben zog über den saubergesaugten Platz dahin. Sie krächzten Archibald zu. Er winkte zurück, vorsichtig, denn man weiß ja nie.

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Archibald bekommt ein Stück Kreide in die Hand gedrückt

Dienstag, 16. März 2010 12:11

ausflugDaß jede Reise mit dem ersten Schritt begänne, behaupten ja nicht nur die Uiguren. Archibald jedoch ist Bär. Und Bären leiden bekanntermaßen unter dem Bärenproblem Antriebsschwäche. Also hatte Ernst Albert das für Archibald übernommen, das mit dem ersten Schritt. Wie Archibald vor ein paar Tagen aus dem Fenster geblickt hatte und das Rufen, welches von draußen auf ihn einstürmte, immer drängender wurde, er aber noch mit seinem inneren Schweinebär rang, der lieber in der warmen und bequemen Stube bleiben wollte, hatte Ernst Albert, der – neben vielen etwas fragwürdigen Eigenschaften – immerhin über die Gabe der Emphatie verfügt, seinen hadernden Hausgenossen gepackt und in die Tasche seiner Jacke gesteckt.

Es war früh am Tag und es war bärig kalt. „Was die Menschen für  blödsinnige Ausdrücke verwenden. Wenn wir Bären etwas lieben, dann ist es die Wärme.“, dachte Archibald, als er auf die morgendlichen, menschenleeren Straßen einer mittelhessischen Provinzstadt blickte. Er war lange, sehr lange nicht mehr hier draußen gewesen und er versuchte sich zu erinnern, hoffte Bekanntes zu entdecken, um sich orientieren zu können, denn Bären mögen es nicht, wenn sie keinen blassen Schimmer davon haben, wo sie sich gerade befinden. Archibald sah, und das hatte er ganz vergessen, was für unglaublich häßliche Ecken diese Stadt hatte. Eben querten die beiden Frühaufsteher einen Platz, der mit absurden grün leuchtenden Glaskästen bestückt war. Diese Kästen waren eine Art Lagerplatz für leere Bierflaschen, Umsonstzeitungen und Werbezettel der umliegenden Kaufstuben. Die Fassaden der  Häuser, die den Platz begrenzten, waren entweder mit schreiend bunten Namenszügen versehen oder mit blaßgrünen oder sekretgelben Kacheln bestückt. Am rechten Rand des wüsten und leeren Platzes stand ein einsamer Baum, blätterlos, einbetoniert und offensichtlich ein beliebtes Ausflugziel diarrhoegeplagter Vierbeiner. Nein, schön war das nicht, eher ärmlich und trostlos und Archibald fragte sich, was Ernst Albert mit ihm vorhatte. Er schaute zum Himmel, wo Eos die ersten rosaroten Spuren hinterlassen hatte. Etwas optische Linderung. Da erblickte er auf einem der Urinalkachelhäuser einen riesigen goldenen Engel. Und, siehe da, der Engel wand nicht sein Antlitz ab von der unfaßbaren ästhetischen Katastrophe zu seinen Füßen, nein, er blickte hin, fast schon liebevoll. Archibald ahnte, was der tiefere Sinn seines Ausfluges sein könnte: Hinschauen, auch wenn es wehtut, denn Wegschauen ist für Pekinesen, Dackel und ähnliche Gestalten. Und so ein frisches Stück Aas ist ja anfangs auch nicht der rein ästhetische Anblick, aber nach dem ersten Bissen extrem lecker und nahrhaft. Sic! Ernst Albert und Archibald verließen den Platz, Archibald mit Erkenntnisgewinn, und sie bogen um die Ecke.

Es ging blitzschnell und die Erinnerung hatte Archibald die Hand um den Hals gelegt. Sein rechtes Bein begann wie wahnsinnig zu jucken Genau hier war es geschehen. Damals. Damals. Die Vergangenheit. Der Kampf. Der Schmerz. Alte, ferne und doch glasklare Bilder umtanzten den Bären. Vorsichtig hob ihn Ernst Albert aus seiner Jackentasche, setzte ihn auf eine Treppe am Straßenrand, drückte ihm ein Stück Kreide in die Hand und sagte: „So. Das mußt Du jetzt alleine erledigen. Keine Angst, Du schaffst das. Bis bald.“ Und weg war er. „Genau. Hier war es gewesen. Damals.“ sagte der Bär leise vor sich hin. Um ehrlich zu sein und präzise zu bleiben, er fühlte sich einsam in diesem Moment, unser Herr Archibald, sehr, sehr einsam.

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Archibald verzweifelt gesucht

Montag, 15. März 2010 11:33

weltbärDer Platz am Fenster leer, wo ist er, unser Bär? Die Unruhe nimmt zu. Spielt die Welt mit Archibald oder spielt Archibald mit der Welt? Gebiert das Warten Pompöses oder nur schnell zu vergessende Winde? Stellvertreterbären drängeln sich in den Vordergrund, wo der Meister selbst sprechen müsste. Es stinkt gewaltig. Draußen vor der Tür. Leugnen. Wegsehen. Bagatellisieren. Ignorieren. Verdrängen. Relativieren. Bemänteln. Vertuschen. Beschwichtigen. Selbst der Vatikan schweigt. Aber den Schneid wolle er sich nicht abkaufen lassen, spricht der Stellvertreterbär. Auf Inglisch. Ein Viertel der Menschen in diesem Land will wieder zweigeteilt sein. Pfeifen wecken den Nachwuchs mit dem Griff ans junge Gemächt und sammeln zum Strip-Poker. Gestern. Ein niederrheinischer Adrenalinjunkie fährt im Kreis und das Land kriegt feuchte Höschen. Heute. Eine Diplomatenenkelin will singend null Punkte für ihr Vaterland sammeln. Morgen. Robben netzen ein. Lebt der Hecker noch? Hauptstadtfrösche zerlegen ihren Spielplatz. Lukas Podolski mutiert zu Boris Becker. Und Mimen faseln nicht nachgefragt vom Vorrecht der Künstler auf den Irrtum und keiner hört zu. Draußen vor der Tür. Das kann Archibald doch nicht kalt lassen. Es tanzen die Gespenster den Vergangenheitstango. Und unser Bär in Mittelhessen? Mittendrin statt nur dabei? Wir werden sehen.

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Der Wind Wunderfitzigkeit beginnt zu heulen

Freitag, 12. März 2010 9:08

sonne2“Man gave names to all the animals / In the beginning, in the beginning. / Man gave names to all the animals / In the beginning, long time ago. / He saw an animal that liked to growl / Big furry paws and he liked to howl / Great big furry back and furry hair / “Ah, think I’ll call it a bear.”” Wenn es so einfach wäre, wie der Herr Robert Zimmermann es einst formulierte.
Archibald hatte das sichere Gefühl eine längere Reise hinter sich zu haben, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann und wo er aufgebrochen war, welche Reiseroute er eingeschlagen hatte und vor allem, wie er dahin gelangt war, wo er sich jetzt befand. Und eigentlich war es Archibald auch relativ egal, denn ein Bär neigt rein genetisch eher zum Determinismus und für ihn bricht die Welt nicht zusammen, wenn er – und mag es auch sein fester Wille gewesen sein – aufgebrochen war, um Lachse zu fangen, dann aber in den Heidelbeersträuchern oder gar vor einer übervollen Menschenmülltonne landet. Dann war es eben die Faulheit, eine Umleitung oder der Wink eines Bärengottes, die den Bären ans neue Ziel geführt hatten. Und nicht der Nasenring. („Aha, noch mehr Traumaaufarbeitung: Die Sklavenarbeit meiner Ahnen auf den Marktplätzen und in den Musentempeln.“, raunte der Psychosozialbär in Archibald.) Aber darauf sei…! (Sagt man nicht, Archibald! gez. Der Netzzensor!) Im Gegensatz dazu ist der Mensch tendenziell eher unbärig gestrickt. Er skandiert Tag und Nacht das Hohelied des freien Willens, muß aber immer wieder erschreckt feststellen, daß eben dieser Wille nicht sein Himmelreich, sondern sein Wolkenkuckucksheim ist und so beginnt er dann stante pede mit der Beschäftigung, welche ihm wirklich am Herzen liegt: Der Suche nach der oder dem und meist den Schuldigen! Abendfüllend. Detailgenau. Germanisch.
Archibald hingegen juckte eher die Wunderfitzigkeit. Und es juckte ihn sein anoperiertes rechtes Bein. Wo war er gewesen heute Nacht? Dort hinter der Fensterscheibe, draußen vor der Tür, im Park, bei den Blättern, auf der Straße? Das abbe Bein? Begrabt mein Bein an der Biegung des Flusses! Wo war er gewesen heute Nacht, der Bär Archibald?
Das Draußen schmiß Archibalds Schatten gegen die Wand. Herr Ernst Albert bat Herrn Robert Zimmermann ein Lied zu singen. Der Bitte kam er gerne nach. ““There must be some way out of here,” said the joker to the thief / “There’s too much confusion, I can’t get no relief “/ usw in a-Moll G–Dur F–Dur G–Dur und etcppp / Outside in the distance a wildcat did growl / Two riders were approaching and the wind began to howl.

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Eine Nachtwanderung endet in Frauenhänden

Donnerstag, 11. März 2010 13:46

eva_pelagiaBären haben ja nichts gegen Frauen. Also Bärenmänner, um präzise zu bleiben oder zu werden. Aber zuviele Begegnungen? Nee! Da draußen in den Wäldern und auf den Bergen sieht man sich auch nur einmal im Jahr, so im Mai oder Juni, und dann sieht man sich richtig und zwar intensiv richtig. Wird zumindest erzählt. Und spätestens, wenn das „sich gesehen haben“ bei den Bärendamen Früchte trägt, jagen diese die Herren vom Acker. Zu Recht, denn es kommt immer wieder vor, daß so eine Frucht, wenn sie sich zu einem niedlichen Bärenjungen entwickelt hat, auf der Speisekarte von Papa Bär landet, worüber sich dann die Menschen fürchterlich aufregen, um dann anderntags an ihren eigenen Schutzbefohlenen rumzufummeln. Und dann ist das Geschrei groß, weil keiner was mitgekriegt haben will, obwohl die meisten Bescheid wußten. Aber das ist ein Thema im Zusammenhang mit Traumaverarbeitung, also etwa aus der Kategorie Abbes Bein / Anoperation und darüber wollte Archibald auch gar nicht nachsinnen, als er erwachte, sondern nur kurz anmerken, daß er als Bär nichts gegen Frauen hat, er sich aber nicht sicher ist, ob er von einer Frau gerettet werden möchte. Denn dies geschah gerade.

Ernst Albert hatte gestern seinen Bären unter dem Buch des Herrn Kotzwinkle liegen lassen und hatte sich sogleich ins Bett begeben. Der Tag war lang gewesen und anregend und der Schlaf ein tiefer. So bemerkte Ernst Albert nichts von Archibald kleiner Nachtwanderung.

Eine Stimme, es war die Stimme von Horse Badorties, hatte Archibald hinausgerufen, hinaus in den Park, um dort ruhig und cool, mit seiner ganzen gelösten strahlenden Persönlichkeit, sich der vitalen Meditation und dem Beknabbern von Buschwerk zu widmen. Und so erhob sich der Bär und schlafwandelte rumpelnd durch die Höhle, versuchte dabei, auf der Suche nach der Wohnungstür, in den Kleiderschrank einzudringen (Polterdirumpel!), verstreute, nach einem schmerzlichen Zusammenprall, das in der Küche gelagerte Leergut über den Steinfußboden (Schepperdiklepper!) und kroch zu guter letzt – vielleicht ist dies ja der Geheimgang in die Freiheit! – in das Schalloch einer der Gitarren von Ernst Albert (Rasselditwäng!), bis ihn die sanften Hände der wachgewordenen Eva Pelagia dort befreiten und zurück auf das rote Sofa trugen und dabei vorsorglich – Frauen wissen oft intuitiv Bescheid über die Gründe männlicher Ver(w)irrung – das Buch des Herrn Kotzwinkle zurück in das Bücherregal stellte. Bärensicher.

Archibald erwachte. Die Sonne kitzelte seine Nase. Die letzte Nacht, nichts als ein einziger undefinierbarer Schatten. Besser so. Denn von mütterlichen Händen wieder auf den rechten Weg gebracht zu werden, ist auch für herumstromernde Bären eine sehr zwiespältige Angelegenheit, rein küchenschypsologisch betrachtet.

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Nachts sind alle Bären schlau

Mittwoch, 10. März 2010 9:42

fanman„Die alten chinesischen Weisen, Mann, leben von ihrem Speichel. Die perfekte Diät. Einzige Voraussetzung ist, daß man sein ganzes Leben im Liegen verbringt, im absoluten Nichtstun. Der Weg des Himmels. Das ist es, Mann, das ist meine Diät.“ Archibald war erwacht. Er lag unter einem Buch. Die Nacht war unruhig gewesen. Mehrfach war er aufgewacht, ein bis zwei bedeutende Sätze auf seiner Zunge. Sie schmeckten immer ein bißchen nach „Genau so ist es.“ Doch wenn Archibald diese Sätze in seinen Gedankenschrank einordnen wollte, um sie bei passender Gelegenheit genauer zu bedenken, schwupp, waren sie weg und der Bär schlief wieder ein. Und schon sprach es wieder in ihm: „Ich weiß jetzt, was ich zu tun hab, Mann. Ich werde heut abend fasten und werde den ganzen morgigen Tag im Park zubringen und mich von Blättern und Beeren und den Wurzeln von Distelbüschen nähren. Mann, ich werde die Energie meiner Kindheit in mich aufsaugen, und sie wird mir eine wahnsinnige Vitalität verleihen. Das ist der Plan. Er ist vernünftig, geistig gesund, er ist klar, er ist wirksam, er erfährt innere Zustimmung von meinem Dorkie-Meter.“ Archibald schlug die Augen auf, wiederum etwas irritiert vom Tanz der Worte in seinem Bärenkopf. Woher sollte er auch wissen, daß er zur seltenen Gattung der Traumleserchen gehörte. Woher sollte er auch wissen, daß man Mäusespuren auf schlecht schmeckendem Papier Buchstaben nennt, daß die Menschen das, womit er sich zudeckte, Buch nennen und daß diese sogenannten Bücher für Menschen eine früher weit verbreitete, heute langsam aussterbende Art des Weltschauens war. Woher sollte er wissen, daß sich gerade zwischen ihm und diesem Buch eine seltsame Beziehung zu entwickeln begann. Er war nun mal nur ein Bär. Wieder fiel er in tiefen Schlaf. Herr Kotzwinkle saß neben dem Bären und las ihm vor. „Mein ganzes Sein antwortet auf diesen Vorschlag mit einem Gefühl des Friedens und der Zufriedenheit. Deshalb kehr ich unverzüglich in meinen Laden zurück, um mich schlafen zu legen. Ruhig und cool, mit meiner ganzen gelösten strahlenden Persönlichkeit, werde ich morgen früh in den Park gehen und mich der vitalen Meditation und dem Beknabbern von Buschwerk widmen. Was für ein wunderschöner und wohlüberlegter Plan, Horse Badorties. Du solltest ein Collegeprofessor sein.“

Ernst Albert war nach Hause zurückgekehrt, den Kopf voller Skizzen und Pläne und Knoten, unter seinem rechten Arm klemmten Zettel, Zeitungsausschnitte und ein Haufen Zeugs, welches es noch durchzuarbeiten galt. Er sah den kleinen Bären selig röchelnd unter einem seiner ehemaligen Lieblingsbücher leseliegen und dachte: „Ja, den Seinen gibt es der Herr im Schlaf.“ Und Ernst Albert sah dabei aus, als sei er sogar ein bißchen neidisch.

Thema: Anregende Buchstaben | Kommentare (4) | Autor: Christian Lugerth

Die “condicio ursa” träumt einen gewaltigen Traum

Dienstag, 9. März 2010 6:52

sonne1Wenn Bären allein sind, denken sie immer ganz besonders intensiv. Da Bären nun mal Einzelgänger sind, insbesondere die Herren, bedeutet dies, sie denken immer ganz besonders intensiv, außer vielleicht sie haben zuviel an vergorenem Obst zu sich genommen. Selbstverständlich gibt es dutzende und mehr Bärendamen auf dieser Welt, die dies bezweifeln. Also das mit dem Denken, keinesfalls das mit dem vergorenen Obst. Doch Weltfrauentag war gestern und Archibald befand sich in offensiver Denklaune und alleiniger als sonst, da nicht nur die Holde des Hauses an der Arbeit war, sondern auch Ernst Albert zu einer Kurzreise aufgebrochen war. So machte sich Archibald daran, ein größeres Thema anzudenken. Nein: nicht „Abbes Bein/Anoperation“, sondern nicht weniger als die „condicio ursa“, die Bedingung des Bärenseins, war es, die Archibald heute umtrieb. Seit Tagen beschäftige er sich nun schon damit, ob er denn ein Ostbär oder ein Westbär sei. Gewiß, es gab Momente, wo ihm dies alles schnurzegal war und er seinem Bärenfatalismus frönte. Doch heute war es Archibald, als ob er sich selbst neu erfinden oder zumindest definieren müsse. Wer bin ich? Wo komm ich her? Warum? Weshalb? Wann? Die vielen, vielen W-Fragen. Und solche großen Fragen haben Bären schon immer im Liegen gelöst. Also stieg Archibald von seinem Fensterbrett, legte sich auf Ernst Alberts (eigentlich Eva Pelagias) rotes Sofa, schlief ein und, wie es Robert Zimmermann einst gesungen hatte: „He dreamt a monstrous dream.“

Archibald stand im Zentrum eines Kreidekreises. Zwei Männer an den Rändern desselben. Der eine Mann roch nach gebranntem Kartoffelwasser und Machorka, der andere trug das Abbild eines riesengroßen Ahornblattes auf seiner Brust und rief unentwegt „Timber! Alas! Timber!“. Archibald hatte das Gefühl beide zu mögen, soweit Gefühle in Träumen präzise sein können. Plötzlich packten die beiden Männer Archibald und jeder versuchte ihn aus dem Kreidekreis auf seine Seite zu ziehen. Beide Männer schienen gleich stark zu sein. Es war ein gewaltiger Schmerz, der Archibald erwachen ließ. Er blickte um sich und sah, daß er auf der Straße einer mittelhessischen Kleinstadt lag. Er war zweigeteilt, hier sein rechtes Bein, dort, etwa 100 Meter weiter, der Rest.

Archibald erwachte ein zweites Mal. Der Tag hatte ihn wieder. „Potzrembel! So kann man sich, wenn man es übertreibt, in zwei Teile denken.“, dachte er und: „Liegt da nicht das mit Mäusespuren übersäte Papier, welches Ernst Albert mir am Potzrembeltag mit dem Ausruf: „Lesebär!“ vor die Nase geworfen hatte?“ Da Archibald vor Kälte und posttraumatischer Verwirrung etwas fröstelte, deckte er sich zu. Mit einem Buch.

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Blumen, Schnaps und der „Große Mitsubishi“

Montag, 8. März 2010 0:23

maerzschnee2Die Nacht war gekommen. Der Wind hatte auf Nord gedreht. Der Himmel war eisesklar. Archibald dachte nach, frei von jeglichen geschäftlichen Verpflichtungen. „La reflexion pour la reflexion.“ Über ihm das größte Sternbild am Nachthimmel der nördlichen Halbkugel, jenes Sternbild, das die Menschen einst nach Archibald, das heißt, nach seiner Gattung benannt hatten. Seit einiger Zeit jedoch hieß es nun „Der Große Wagen“. Archibald verstand nicht warum. Jedem nicht komplett unwissenden Bär war klar, daß mit „Wagen“ seit jeher nur die fünf „Schwanzsterne“ des Bärenbildes bezeichnet wurden. Irgendwann hat nun der Mensch – wahrscheinlich im Zuge seines zunehmenden Mobilitätswahns – den eindeutig erkennbaren Bärenschwanz zur Deichsel eines Wagens umgedeutet und das gesamte Sternengebilde einfach umbenannt. „Wahrscheinlich ist der Tag nicht fern und sie kommen auf die Idee dieses wunderbare Bärenlicht „Der Große Mitsubishi“ zu nennen.“ Archibald war kurz davor sich bärig zu echauffieren, doch da er sich damit einen Bärendienst (auch über diesen Ausdruck gilt es gelegentlich nachzusinnen, dachte er kurz) getan hätte, blieb er ruhig und seine Nase genoß die menschenduftfreie Nachtluft. Über ihm alle diese funkelnden Boten, die vor Sternenjahren mal ein bißchen Licht auf die Reise geschickt hatten, welches heute nacht bei dem nachsinnenden Bären in Mittelhessen ankommen sollte. „Hoffentlich fällt den Menschen nicht ein, eines Tages neben jeden Stern da oben ein Preisschild, ein Etikett und das Verfallsdatum zu hängen. Schlimm genug, wenn sie aus ihrer Welt und ihren Hirnen eine einzige Kaufbude machen.“ Archibald spürte immer noch die Nachwirkungen des gestrigen Sonntags, als tausende und abertausende ferngesteuerte Menschen im Kaufrausch die Gegend rund um seine Höhle unsicher gemacht hatten. Doch die Nacht brachte Linderung. Archibald ruhte in seinem Fell und die Frage, welche ihn seit Tagen umtrieb, nämlich, ob er denn ein Bär des Westens oder des Ostens sei, pochte nur leise an den Rändern seiner Träume, in denen Lachse ohne Preisschild, Bienenstöcke ohne Etikett und Heidelbeeren ohne Mindesthaltbarkeitsdatum die Hauptrolle spielten. Eine kalte Frühfrühlingssonne weckte Archibald.

Heute war nicht irgendein Tag. Heute war Weltfrauentag. Archibald konnte das nicht wissen. Ernst Albert aber wußte es. In der vor zwanzig Jahren versunkenen Hälfte dieses Landes wurde der Tag im wesentlichen so gefeiert, daß die Männer morgens ihren Kolleginnen Blumen mitbrachten, dann eine Rede auf die Frauen hielten und den Rest des Tages Schnaps tranken. Ernst Albert handhabte dies anders. Er trank erst einen Schnaps, ging dann für Eva Pelagia Blumen kaufen, um, wenn sie dann von der Arbeit nach Hause käme und er noch dazu in der Lage wäre, eine kleine Rede zu halten.

Kaum erwacht fiel es Archibald wie – diesen kleinen Scherz konnte er sich nicht verkneifen – Lachsschuppen von den Augen. „Ursa major.“ Ursa: die Bärin! Ursa major: die größere Bärin. So heißen die Sterne dort oben. Und die  abgespeckte Variante daneben heißt? Der Kleine Bär! Sic! So hatte also Archibald durch pures, selbstloses Nachsinnen seinen Beitrag zum Weltfrauentag geleistet. Wie aber die größere Bärin und der kleine Bär an den Himmel gekommen waren, das ist eine andere und bitterböse Geschichte.

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Von der Primula vulgaris, einer Geschäftsidee am Sonntag und was Jeff Bridges dazu sagt

Sonntag, 7. März 2010 15:15

maerzschneeDraußen lag frischer Schnee. „Wenn der Quark auf den Boden fällt, fällt der Quark auf den Boden.“, sagen die Inguschen gerne, die an den Nordhängen des Kaukasus leben und dort schon manchem Bären das Leben schwer gemacht haben. Archibald war wach, hellwach und war fest gewillt, keinerlei Meinung haben zu wollen in Bezug auf die Verzögerungen im Betriebsablauf betreffs der Ankunft der nächsten Jahreszeit. Welt zu schauen heißt Rückschläge erdulden zu müssen. Außerdem gab es viel zu bedenken und in die richtigen Gedankenschrankfächer zu lenken. Angesichts einer solchen Aufgabe sollte man schlichtweg – Archibald schämte sich im selben Moment, da er das nun folgende Wort dachte – Bärenruhe zu bewahren. Nichtsdestotrotz: hatte nicht Archibalds Bärenahnvater, als er damals auf dem Ararat die Arche als letzter verließ, zu dem ihn zur Eile antreibenden Noah gesagt: „Gott hat Euch Menschen eine schwere Aufgabe auferlegt. Er beschleunigte Eure Zeit.“?

Draußen jagten die Menschen von Kaufstube zu Kaufstube. Es war  Sonntag und irgend jemand hatte den Menschen verboten zu Hause zu bleiben. Vor den übervollen Kaufstuben standen junge frierende Frauen und drückten den Tüten und Taschen voller Lebensmittel, Elektroartikel, Kleidungsstücke und Kopfschmerztabletten aus den Kaufstuben zerrenden Menschen eine Primula vulgaris in die unfreien Hände, gratis. Archibald wollte sich davon nicht beeindrucken lassen und rieb sich am Fensterrahmen. Es war zwar nicht zu erwarten, daß in nächster Zeit ein weiterer Bär in Ernst Alberts und Eva Pelagias Höhle einziehen würde, aber zum einem gilt: „Traue keinem Menschen! Abbes Bein hin, Anoperation her!“ und zum anderen: „Gelegentliches Markieren des Reviers hat noch niemandem geschadet.“ Man ist ja schließlich Bär und keine Ameise und weiß einen solitären Lebensstil zu schätzen, der außerdem Voraussetzung für Nachdenkarbeiten aller Art ist. Die Menschen draußen erhöhten die Schlagzahl und Archibald hatte das Gefühl, er müsse nun doch etwas tun. Nur was? Nachdenkarbeiten? Ist das der Weg? Ja! Nachdenkarbeiten! Da war sie: die Geschäftsidee. Archibald konnte zwar nicht klagen über sein Leben im Haushalt Albert / Pelagia, aber ein kleines Zubrot verdienen mit Nachdenkarbeiten, warum nicht? Selbstlos die Ergebnisse tage- und nächtelanger Hirnarbeit teilen. Nein, nicht selbstlos, ein paar Lachse, Honig und Heidelbeeren könnten schon dabei abfallen, denn geteiltes Nachdenken ist doppeltes Nachdenken. Eine Bärenweltidee: staatlich geprüfter Nachdenker! “Sie gehen shoppen jeden Tach, solange denk ich für sie nach.” Ungeahnte Möglichkeiten! “Die einen wählen Westerwelle, ich denke nach an ihrer Stelle.” Eine Wachstumsbranche! “Wollen Sie dem Kind was schenken, Archibald kann für es denken.” Euphorie bemächtige sich des Bären. “Wenn ihr Arsch auf Grundeis hängt, ruf den Bär, der für Dich…” Archibalds Blick fiel auf die Mülltonne, die vor dem Nachbarhaus stand. Er kratzte sich am Hintern. Ein Schwarm Raben flog über die Höhle hinweg. Es dämmerte. Ideen kommen, Ideen gehen und raus bist Du. Archibald dankte den Bärengöttern. Sie hatten ihn gerade vor einer großen Dummheit bewahrt. Wie schön es ist, die hereinbrechende Nacht willkommen zu heißen. So ganz ohne Geschäftsidee.

“Wenn mein Impuls ist, das zu tun, was ich wirklich liebe – dann ist jetzt die richtige Zeit dafür! Aber bin ich auch wirklich dazu in der Lage? Weil: Es kann auch sein, daß ich nur ein faules Arschloch bin. Ach, immer diese Selbstzweifel…” Aber das hat Jeff Bridges gesagt.

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